Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
war auf dem Nullpunkt. Er war kaum ansprechbar, und wenn er etwas sagte, kam es einem vor, als würde er wie ein Krokodil mit langem Maul und spitzen Zähnen nach einem schnappen. Dann, als Ed, der sonst immer als erster aufstand, endlich aus dem Bett gekrochen kam, mußte er sich mehrmals übergeben. Dämonen taten so etwas; es war bekannt, daß sie so etwas taten.
Ich beobachtete den Dämon bei seiner Arbeit: Er zerbrach Geschirr, er verstopfte den Abfluß des Spülbeckens, so daß braune Brühe aufstieg, sobald man den Geschirrspüler einschaltete. Er ließ die Sicherungen durchbrennen und verbreitete einen Geruch von Verwesung in der Wohnung. Oben, in der Ecke neben der Tür zur Terrasse spann eine fleischige Spinne ihr Netz.
Der Streit zwischen Ed und B nahm erschreckende Formen an. In den nächsten Tagen gingen sie nicht mehr zur gleichen Zeit ins Bett, um sich, der eine im Schoß des anderen, über die Probleme des Alltags zu unterhalten. Statt dessen hörte ich Bernhard abends die Luftmatratze aufpumpen und sich in der Nacht unruhig darauf herumwälzen. Am Morgen stand er alleine auf und produzierte eine immense Geräuschkulisse: Die Dusche rauschte, als wäre sie die Viktoriafälle. Wenn er die Zahnbürste ins Waschbecken schmiß, hörte es sich an wie ein Hammerschlag. Die Kaffeemaschine röhrte bohrmaschinenartig, und dann machte er sich mit einem lauten Türenknallen auf den Weg zur Schule.
Weil sich keiner aufzustehen traute, solange Bernhard durch die Wohnung polterte, wir aber alle davon wach wurden, ganz gleich, wann wir zu Bett gegangen waren, begegneten wir uns zeitgleich: Nani in ihrem rosafarbenen Morgenrock, ich in meiner Calvin-Klein-Unterhose, Edvard fix und fertig angezogen, als ob er sich gar nicht ausgezogen hätte. Ja, er sah nicht mal aus, als hätte er überhaupt geschlafen. Er strahlte sogar wie früher, aber es war nicht echt.
Unsere Wege kreuzten sich im Großen. Ed ging in die Küche, um das Frühstück für uns vorzubereiten, bevor er sich in sein Geschäft aufmachte, Nani ging ins Bad, ich deckte den Tisch. Dann ging Bs Mutter zurück in ihr Zimmer, um sich anzuziehen, und ich unter die Dusche. Als ich rauskam, war das Frühstück fertig.
Wir tranken Kaffee, knabberten an trockenen Toastscheiben herum und sprachen kaum. Wenn sich unsere Blicke begegneten, lächelten wir und schauten gleich wieder weg. Der Dämon machte uns stumm, das war seine Taktik, so konnte er besser wüten.
Nach dem Frühstück ging Ed ins Bad und machte sich fertig, Nani räumte den Tisch ab und kümmerte sich um die Küche. Ich zog mich an.
Bs Mutter, die unter dieser Spannung sehr zu leiden schien, klammerte sich an mich. Plötzlich mußte mein Deutsch besser werden, schreiben und so, damit ich beim Studium keine Probleme bekommen würde – dabei hatte ich mich noch nicht mal entschieden, ob ich überhaupt in Deutschland bleiben wollte. Ich mußte Scrabble mit ihr spielen und Kreuzworträtsel lösen.
Auf den Spaziergängen, die sie mit einem Mal unternehmen wollte – Spazierengehen bedeutete: Malvyn schiebt den Rollstuhl, in dem Nani sitzt –, erzählte sie mir dann Geschichten, die mir klar machten, wie einsam sie in Wirklichkeit war. Von einer Frau Schipper, zum Beispiel, einer ehemaligen Nachbarin, mit der sie früher viel Zeit verbrachte. Im Sommer hatten sich die Familien gegenseitig im Garten geholfen, Bs Bruder Ludwig war hinter der ältesten Tochter der Schippers her gewesen und hatte sie an den blonden Zöpfen gezogen. Inzwischen hieß Frau Schipper Hofmann und lebte im Saarland – sie zog weg, als B fünfzehn war. Neulich dann stand sie sehr zu Nanis Überraschung plötzlich vor der Tür; sie hatte sie sofort erkannt und ins Haus geholt und erzählt und erzählt und erzählt. Zum Abschied hatte ihr Frau Hofmann ihre Adresse dagelassen: „Aber ich werde sie nicht anrufen. Nach so vielen Jahren hat man sich einfach nichts mehr zu sagen.“
Ob Nani vor Ed und B so offen über ihre Einsamkeit gesprochen hatte?
Sie erzählte mir, daß die Besuche bei den Nachbarn, die sich nach dem Tod ihres Mannes um sie gekümmert hatten, ihr nur zeigten, wie sehr sie ihren Theo vermißte. Und auch ihre Freundin Thea wollte sie lieber nicht mehr sehen, denn nachdem ihr Mann den Unfall hatte, erzählten sie sich immer nur, wie einsam sie ohne ihre Männer waren. „Das mag ich nicht, Malvyn. Lieber bleibe ich allein.“
Einsamkeit, das gab es bei uns nicht. Familien blieben zusammen, und wenn einer zum
Weitere Kostenlose Bücher