Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
daß ich sie fast über Bord geworfen hätte. Ich sah seine Lippen vor mir, seinen buschigen Bart, die schwarzen Augen und kräftigen Hände, und noch einmal machte sich das Zittern der Erregung in mir breit, als stünde ich unter Strom.
Sollte ich Edvard das erzählen?
„Nichts erwähnenswertes“, sagte ich.
Lydia *
Divja holte mich ab. Die Eisenbahn hielt, und sie stand genau vor der Tür, aus der ich ausstieg. Wie sie das nur erraten hatte?
„Hallo, meine Liebe“, sagte sie und zog meinen Koffer aus dem Waggon. „Wie war die Fahrt?“ Sie trug ihre weiße Daunenjacke, Ohrenklappen und einen rosafarbenen Schal. Ihre Nase war rot, die Augen tränten vor Kälte.
„Lange, Divja, lange.“
Wir umarmten uns und drückten uns.
„Ich bin froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben“, sagte ich.
„Wir müssen aber gleich noch ein Stück Auto fahren.“
„Das werde ich auch noch überleben.“
Wir gingen durch den Bahnhof hindurch zu den Parkplätzen. Es war geschäftig, zu laut, um sich zu unterhalten, deshalb schwiegen wir. Ich schwieg oft mit Divja; es war angenehm. Wir verstanden uns darin gut.
„Und? Wie war’s?“ fragte sie dann, sobald wir im Wagen saßen.
„Aufregend“, antwortete ich. „Diese große Stadt, sie haben mir so viel gezeigt. Und wie ist es dir ergangen?“
„Du warst doch kaum weg, Lydia“, sagte sie.
„Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit“, antwortete ich. „Ich freu mich richtig auf zu Hause.“
Divja fuhr langsam, aber sehr sicher durch die Stadt Richtung Heimat. Zu Hause angekommen, stieg ich aus und ging hinein; ich hatte tatsächlich das Gefühl, als wäre ich Monate verreist gewesen. Divja brachte meinen Koffer herein und stellte ihn ab. Ich legte Schal und Mütze auf die Kommode unter der Garderobe, zog meine Jacke aus und freute mich, daß gut geheizt war.
„Soll ich dir einen Tee kochen?“ fragte sie.
„Och, das wäre eine schöne Idee. Kaminfeuer wäre mir lieb.“
„Gut, setz dich und erzähl mir von deinem Sohn.“
Ich setzte mich auf das Sofa, steckte meine Füße in das Heizkissen und schaltete es an, dann legte ich mir die Decke über die Knie. So saß ich hier gern. „Er lebt mit einem Mann zusammen.“
„Also doch“, rief sie aus der Küche, wo gerade das Wasser zu kochen begann.
„Ja. Und sie scheinen sehr zufrieden. Sie haben eine schöne Wohnung, und es scheint, als würden sie sich gut verstehen.“
Divja brachte zwei Tassen und Honig und stellte alles auf dem Couchtisch ab. „Plätzchen?“
„Du kannst sie ja mal hinstellen. Aber im Moment reicht mir Tee.“
Divja verschwand wieder in der Küche. „Erzähl weiter!“ forderte sie mich auf. „Sie scheinen zufrieden zu sein. Und?“
„Die beiden kümmern sich um ein kleines Mädchen. Hannah heißt sie und sie ist so goldig. Sie ist die Tochter von einem jungen Ding, das eine Modellagentur leitet, Fotomodelle für Kataloge. Weißt du?“
Divja brachte das Stövchen, stellte es ab und zündete das Teelicht darin an. „Ja. Sie sind wohl auf dem richtigen Weg“, sagte Divja. „Gott sei Dank werden Homosexuelle nicht mehr so diskriminiert. So können sie sich mehr auf ihre Beziehungen konzentrieren und neue Formen des Zusammenlebens finden.“
Divja war eine so weise Frau. Wo sie dieses Wissen nur hernahm?
„Ich muß dich mal was fragen“, sagte ich.
„Ja?“
„Du erinnerst dich doch sicher an die Tarotkarte, auf der ein Paar in der Landschaft steht und auf Kelche deutet, die über ihnen am Himmel schweben.“
„Und daneben tanzen zwei Kinder Ringelreihen?“
„Ja, genau die.“
„Die zehn Kelche. Was ist damit?“
„Kannst du mir sagen, was diese Karte bedeutet?“
„Es ist davon abhängig, in welchem Zusammenhang sie steht oder auf welchem Platz in einem Spiel. Allgemein gesprochen kann man sagen, daß sie harmonischen Einklang verkündet und tiefe, aufrichtige Liebe. Sie spricht von Geborgenheit und wahren Gefühlen, von tiefem Glück und Dankbarkeit in einer Beziehung oder Familie. Wie kommst du da jetzt drauf?“ fragte sie.
„Die beiden haben das Bild über ihrem Bett hängen.“
„In diesem Zusammenhang würde ich eher darauf tippen, daß es das ist, was sie suchen, sonst würden sie es nicht aufhängen. Oder? Und wenn sie es suchen, fehlt es ihnen. Kam dir das so vor?“
Ich stützte meinen Kopf in die Hand und dachte nach. „Mein Junge ist seinem Vater so ähnlich. Und ich befürchte fast, daß Edvard so weich ist, wie ich es war.
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