Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
Selbsthilfegruppe der schwulen Väter ging.
Als er sie damals, kurz nach Hannahs Geburt, gründete, hatte ich versucht, ihm zu erklären, daß er, nur weil er sich um ein Kind kümmerte, noch lange kein Vater war. Er hatte sich daraufhin diskriminiert gefühlt, von mir. Ich sei nicht besser als die reaktionären Heteros, hatte er mir vorgeworfen, die den Schwulen das Adoptionsrecht absprechen wollten. Dabei fand ich es einfach nur ein bißchen übertrieben. Aber bitte, wenn es ihm guttat, dann sollte er hingehen. Meinetwegen.
Er kam also von der Gruppe nach Hause, und ich hörte „Krise!“ schon an der Art, wie er sein Schlüsselbund auf die Spiegelkommode der Garderobe knallte. Dann ließ er sich – ohne jede Begrüßung – wie einen Sack Kartoffeln aufs Bett plumpsen. Die Hände baumelten zwischen seinen Beinen wie nasse Lappen, sein Kinn hing herunter, ja selbst sein Haar, das er zu der Zeit zu glänzenden spitzen Stacheln aufgestylt trug, schien matt und müde auf seinem Kopf zu liegen – ein jämmerlicher, wenn auch ein wenig alberner Anblick.
„Hallo, Schatz. Erfolgreichen Tag gehabt?“ fragte ich ihn und las weiter.
„Katastrophe!“ stöhnte er auf.
Ich warf ihm über mein Buch hinweg einen verstohlenen Blick zu und stellte fest, daß es sich um eine Edvard-Katastrophe handelte. Es bestand kein Grund zur Sorge. Also las ich weiter.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, was passiert ist.“
„Hmm.“
„Bernhard. Kannst du mir einen Gefallen tun?“
„Hat es Zeit bis morgen? Es ist schon nach elf.“
Er nahm mir das Buch aus der Hand. „Schau mich an.“
Ich schaute ihn an.
„Was siehst du?“
Ich setzte mich auf und lehnte mich nach vorn, drehte die Nachttischlampe heller, um ihn besser sehen zu können. Schließlich nahm ich ihn sogar an Kinn und Stirn und drehte seinen Kopf von links nach rechts. „Au weia“, sagte ich und tat ganz entsetzt. „Edvard!“
„Was? Was? Sag schon!“
„Ich glaube …“, ich zögerte und drehte seinen Kopf noch einmal, „du hast ein graues Haar.“
Edvard boxte mir in den Oberarm, dann heulte er auf wie eine Sirene und ließ sich dramatisch nach hinten fallen. „Ich hab mich mit so einem Knackkistchen unterhalten“, erzählte er im Jammerton. „Es war keine Zwanzig und stand kurz vor seinem Coming-out. Er wollte es seinen Eltern sagen und seinen Arbeitskollegen, hatte aber Angst wegen Lehrstelle und so. Dann wollte ich an die Bar gehen und mir was zu trinken holen, und fragte ihn daher, ob ich ihm was mitbringen sollte. Da sagte er: ‚Würden Sie mir bitte eine Apfelschorle mitbringen?‘“
Edvard machte eine Pause. Die Katastrophe versteckte sich also im zuletzt Gesagten. „Was ist so schlimm an ‚Apfelschorle‘?“
Edvard sprang auf, das pure Entsetzen stand ihm im Gesicht: „Er hat mich gesiezt, Bernhard! Gesiezt, verstehst du? Sehe ich aus wie ein alter Mann?“ Er starrte mich an und sank dann wieder aufs Bett. Die Szene war bühnenreif, aber ich muß zugeben: Sie war gut geprobt.
„Edvard?“
„Ja.“
„Wie alt bist du gerade?“
Er dachte einen Moment nach. „Fünf?“ Dann drehte er mir das Gesicht zu und schmunzelte.
„Wärst du auch nur einen Tag älter oder jünger“, sagte ich, „ich würde dich nicht wollen.“
Edvard sprang auf und fiel über mich her, übersäte mich mit Küssen. Ich versuchte mich zu wehren, so wie man sich gegen den Angriff eines aufgeregten Hundes wehrt, der einem das Gesicht ableckte, aber ich hatte keine Chance. Bald war ich überwältigt, Edvard drückte mich aufs Bett und steckte mir seine Zunge in den Mund. Dann stemmte er sich hoch und schaute mir lange in die Augen: „Ich liebe dich“, sagte er, und wieder einmal wußte ich nicht, wie ernst er es wirklich meinte.
So war er, mein Edvard: dramatisch, wenn es um vermeintliche Katastrophen ging – wie in diesem Fall um seine Angst, alt zu sein, alt zu wirken, alt zu werden –, und dramatisch, wenn es um den Ausdruck seiner Gefühle mir gegenüber ging. Wie konnte ich ihn da ernst nehmen? Was durfte ich ihm glauben?
Er stieg von mir herunter. „Ich geh Zähne putzen“, sagte er und ging ins Bad. Auch das war Edvard: Er kommentierte alles, was er tat, und das in einer Tour. „Ich wasche eine Ladung Weißwäsche.“ „Ich geh mal eben aufs Klo.“ „Ich mach mich dann mal ans Abendessen.“ So ging das den ganzen Tag.
Ich nahm mein Buch wieder auf und las weiter, bis Edvard aus dem Bad kam.
„Hast du was von Raimondo
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