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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Niederwieser
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Nachbarn.“
    Ganz automatisch schaute ich über den Hof auf die Fenster, hinter denen er gelebt hatte.
    Malvyn folgte meinem Blick. „Wow, das ist echt verdammt nah. Du konntest ihm ja voll in die Wohnung schauen.“
    „Nicht nur das.“
    „Erzähl mir von ihm“, sagte er. Seine Augen waren auf mich gerichtet; sie waren so groß und weit, daß es mir vorkam, als stünde ich auf einem Felsvorsprung zu einer Schlucht. Ich mußte sehr auf meine Balance achten, damit ich nicht fiel.
    Ich setzte mich zu ihm an den Tisch und erzählte ihm die Geschichte, alles, so wie ich sie noch nie erzählt hatte: Von meinem Fernglas, mit dem ich Christian beobachtet hatte, von der Nacht, in der er von den Sanitätern abgeholt wurde, von meinem ersten Besuch im Krankenhaus und den darauffolgenden Wochen, in denen wir uns nach und nach ineinander verliebt hatten, von den letzten Stunden bis zu seinem Tod und der ganzen Ewigkeit danach, den Monaten, die so lang und menschenleer waren, wie eine Wanderung über den Nordpol.
    „Wow“, sagte er, als ich am Ende angelangt war. „Das ist eine schöne Geschichte.“ Seine Kinnlade hing ein wenig herunter, und ich konnte mir nicht helfen, aber er erinnerte mich an einen kleinen Jungen, der im Kasperletheater saß.
    „Und jetzt? Hast du einen Freund?“ fragte er dann.
    Ich lachte. Nur ein Kind konnte so eine Frage stellen. Als könnte man in einen Laden gehen, eine Bestellung abgeben und würde dann den perfekten Partner serviert bekommen. „Es ist nicht so einfach. Ab und zu, wenn ich glaube, daß er es sein könnte, nehme ich jemanden mit nach Hause, aber bisher war der Richtige noch nicht dabei.“
    „Macht dich das traurig?“
    Noch eine Frage, die ein Erwachsener nie stellen würde. Nicht weil sie kindlich war, sondern weil sie so real war, daß niemand wagen würde, so etwas zu fragen. Zugleich war sie so entwaffnend, daß ich ehrlich antworten mußte: „Ja, schon.“
    „Wie hältst du das aus?“
    „Es hat mir sicher geholfen, daß ich …“ Ich schaute ihn skeptisch an. Machte ich gerade einen kompletten Idioten aus mir?
    „Was?“
    „Daß ich …“ Konnte ich ihm sagen, daß Christian immer bei mir ist?
    „Daß du ihn nicht vergessen kannst?“ fragte Malvyn.
    „Ja. Manchmal … manchmal rede ich sogar mit ihm.“
    „Worüber?“
    Er fragte das so selbstverständlich, daß ich nicht wußte, ob er mich ernst nahm. „So alltägliche Sachen?“ fragte er, „oder über ganz bestimmte Dinge.“
    „Über … Liebe.“ Ich sagte es, ich mußte es sagen. Malvyn konnte ich nicht belügen.
    „Und?“
    „Bisher hat er mir immer abgeraten. Bei jedem, den ich mit nach Hause gebracht habe, hat er ‚Nein‘ gesagt.“
    „Ich glaube, du verwechselst etwas“, sagte Malvyn und schaute mich mit einem durchdringenden Blick an. „Wenn dich Christian wirklich geliebt hat, dann will er, daß du glücklich bist. Er würde dir niemals von der Liebe abraten. Was du hörst, ist nicht Christian, du hörst deine Angst.“
    Ich war verwirrt. Dieses Bübchen könnte theoretisch mein Sohn sein.
    „Unsinn“, sagte ich zu Malvyn. „Komm, greif zu! Du hast noch gar nichts gegessen.“ Ich schob alles ein wenig näher zu ihm hin, aber anstatt zu essen, behielt er mich fest im Blick.
    „Mäxx.“
    „Brauchst du noch Butter? Ach, ich hab die Butter nicht rausgestellt.“ Ich wollte aufstehen und sie holen.
    „Mäxx!“ rief er laut, als säße ich vorn im Wohnzimmer.
    „Ja?“
    Er packte mich am Kinn und schaute mir in die Augen, tief, bis in meine Seele.
    „Darf ich dich küssen?“ fragte er.
    „Warum?“ war alles, was mir dazu einfiel. Dumm, nicht wahr? „Nein“, sagte ich dann, „nein, bitte. Wirklich nicht.“ Ich weiß nicht, was das für eine Angst in mir war. Küssen? Meine Lippen gehörten doch Christian.
    Malvyn beugte sich zu mir herüber, und ich schloß die Augen, dann spürte ich seinen Atem, seine warmen Lippen, die groß und fleischig und feucht waren. Und schließlich schob er seine Zunge sanft und langsam in meinen Mund. Sie schmeckte nach Knoblauch und Spargel, süß wie die Jugend, frisch wie das Leben. Ich fühlte mich wie ein Verräter.

Malvyn *
     
    Diese Kneipentour, so unspektakulär sie erscheinen mochte, sie hatte mir die Augen geöffnet. Ich fühlte mich wie Brad Pitt in Interview mit einem Vampir. Ich hatte Blut geleckt und sah die Welt nun durch ganz andere Augen. Schwule Männer unterschieden sich plötzlich nicht mehr nur durch die Art, wie sie sich

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