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Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)

Titel: Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Niederwieser
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meiner Freunde hatte noch einmal eine Reise unternommen, nachdem sie in dieses Stadium der Krankheit eingetreten waren, aber ich hielt den Mund. Er würde traurig genug sein, wenn der „große Geist“ kam, um seinen Gefährten zu holen.
    Tja, und Mäxx hätte ich natürlich gerne gesehen, aber der hatte nur angerufen, um mir zu sagen, daß er für ein paar Tage geschäftlich nach Berlin reisen mußte.
    Ich hatte mich also schon darauf eingestellt, meine Unschuld in London zu verlieren, da kam es ganz anders:
    Dort, wo ich herkomme, mußten die Jungs früher eine Initiation durchmachen, erst dann wurden sie als Mann anerkannt. Dieses Ritual hatte etwas mit Kampf, mit der Überwindung einer großen Angst und mit Tod zu tun. Mein Großvater erzählte mir davon, daß sie ihn zusammen mit anderen Jungs seines Stammes in den Wald schickten. Dort mußte er Tage in einem Lager ausharren, sich von den Früchten der Natur ernähren, während ihnen ein Medizinmann die Mythen und Tabus seines Volkes lehrte.
    Am letzten Tag nahmen alle einen Schluck vom Trank der Wahrheit. Mein Großvater fiel in einen Schlaf, und dann hatte er einen Traum: Er lief nackt durch den Wald, etwas jagte hinter ihm her. Er konnte es nicht sehen, aber er spürte es. Dann, als er schon ganz außer Atem war und sich dem Tod nahe wähnte, erschien unkulunkulu. Mein Großvater fiel vor ihm auf die Knie. „Bitte hilf. Hilf mir, Größter aller Größten!“
    „Was ist deine Angst?“ fragte der.
    „Ich werde gejagt, und ich kann nicht entkommen“, wimmerte Großvater.
    „Dann begegne dem, was dich jagt“, sagte unkulunkulu und verschwand.
    Aber mein Großvater konnte das nicht, er fühlte sich zu schwach, weiterzulaufen. Da er sicher war, bald zu sterben, wollte er wenigstens sehen, durch wessen Maul er den Tod finden würde. So raffte er allen Mut zusammen und drehte sich um. Damit erwachte er aus seinem Traum.
    Er erzählte mir diese Geschichte, als ich sechs Jahre alt war. Sie beeindruckte mich so sehr, daß ich es kaum erwarten konnte, selbst die Initiation zu durchlaufen. Aber wie so viele in meiner Heimat hatte sich auch mein Vater von der Tradition abgekehrt. Das höchste, was ich ihm entlocken konnte, war ein Pfadfinder-Camp. Als ich heulend vor meinen Großvater trat, sagte er: „Jeder Mann wird initiiert, mein Junge, ein jeder. Und die Initiation kommt manchmal in ganz überraschender Form.“
    Ich hatte so viele Jahre darauf gewartet, daß ich diesen Wunsch inzwischen vergessen hatte. Weitab vom Dschungel passierte es dann. Ich hatte noch kaum etwas über Tabus gelernt und wenig über Mythen. Es war kein Medizinmann in der Nähe, und auch eine Droge brauchte ich nicht dazu.
    In einer warmen Nacht Mitte Juni, es war die Nacht vor meiner Abreise nach London, ließen sich zwei Buschgeister aus den hohen Lüften der Träume zu mir herab. Sie bewegten sich leise und vorsichtig, als schwebten sie auf Wolken hernieder. Sanft legten sie die Hände auf meinen Körper, streichelten und massierten mich, leckten mir mit ihren Zungen über die Haut und lehrten mich die Erregung. Sie führten mich in ein verwirrendes Labyrinth, in dem alle Wege nach oben führten; in jedem Moment fühlte ich mich verloren, und doch spürte ich mich meinem Ziel näher und näher kommen.
    Es war wie ein Tanz, ein Ballett der Körper, ganz ohne Anstrengung, aber mit viel Schweiß. Ich verspürte Angst, aber von ganz anderer Art, eine Aufregung, wie vor einer Mutprobe, von der ich wußte, daß ich sie bestehen mußte. Die Initiation.
    Während meine Sehnsucht sich einen Weg durch den Dschungel der Gefühle bahnte, suchte ich nach dem wilden Tier. Ich suchte nach der Furcht, die mir mein Großvater beschrieben hatte. Wo war sie nur? Sie mußte doch irgendwo sein? Da hörte ich eine Stimme, von weit her, wie aus einer anderen Welt.
    „Du bist voller Liebe, Malvyn“, sagte sie. „Wo Liebe ist, ist kein Platz für Angst.“ Und dann durchzuckte es mich, wie von tausend Giftpfeilen auf einmal getroffen, ein Schwall von Hitze jagte durch meinen Körper und überzog mich mit einem Schauer, so kühl wie Regen im März. Das Gift brachte meinen Körper zum Kochen, bis er wie Feuer brannte, und ich fühlte die süße Erlösung des Todes.
    Am Morgen dann, das Licht der Sonne trieb ihre langen Finger durch die Ritzen der Jalousien, da huschten die beiden Buschgeister davon und ließen mich verschwitzt, verklebt und glücklich zurück.
    So oder so ähnlich werde ich es meiner Mutter

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