Eine Wohnung mitten in der Stadt (German Edition)
Kindererziehung ist wie Politik: Die richtige Wortwahl verlagert die Aufmerksamkeit.
„Und morgen früh, wenn du aufwachst, geht Edat mit dir zur Belohnung ein neues Kleidchen kaufen.“ Ich zog alle Register. Ich hasse deals, und jedesmal wenn ich darauf verfiel, wehrte sich etwas in mir, aber es gab keine Alternative.
Hannah heulte ein wenig vor sich hin und zog einen Schmollmund. „Gretl!“
Ich versprach ihr, daß ich die Stoffpuppe suchen würde, sobald wir fertig waren, und legte ihr dabei vorsichtig die Windel an.
Kim hatte Gretl unter Edvards Aufsicht nach anthroposophischer Vorlage selbst genäht – was niemand so recht glauben wollte, der Kim kannte, denn Kim war alles andere als häuslich. Gretl bestand aus natürlichen, lehm- und erdfarbenen Materialien; Augen und Mund waren gestickt, die Haare aus Wolle geflochten, sogar die Kleider selbst gehäkelt. Das ganze Ding sah ein bißchen so aus wie eine Bastelarbeit aus der zweiten Klasse, aber laut Edvard war es für etwas gut, wenn Hannah mit ihr spielte. Er glaubte an allen möglichen übersinnlichen Humbug, verstank regelmäßig unsere Wohnung mit Räucherstäbchen, hatte einen Altar im Schlafzimmer angelegt, den er hütete wie seinen Augapfel, und beschenkte unsere Freunde mit diesen komischen Perlenarmbändern aus Halbedelsteinen, die „positive Vibrationen“ ausstrahlen sollten.
Es läutete an der Tür. Als ich mit Hannah aus dem Bad kam, öffnete Edvard gerade für Jean-Paul, der in unsere Wohnung schritt, als wäre sie ein Laufsteg. Sein zierlicher Hals wuchs aus einem leuchtend blauen Anorak heraus, die Kälte hatte rote Flecken auf seine schneeweiße Haut getrieben. Obwohl er seine kurzen, blondierten Haare mit Gel zu kleinen Stacheln stylte, gefiel er mir; wegen seiner großen Augen und weil mich seine frechen Lippen penetrant aufforderten, sie zu küssen.
„Bin ich zu früh?“
„Nein. Wir sind nur ein bißchen spät dran“, sagte Edvard und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. „Aber vielleicht kannst du mir ja noch ein bißchen helfen.“
Ein eisiger Zug fegte durch die Wohnung.
„Mach bitte die Tür zu, Edvard! Es zieht“, sagte ich. „Hannah, sag: ‚Gute Nacht, Jean-Paul‘.“
Hannah stopfte sich drei Finger in den Mund, drückte sich an mein Bein und klammerte sich fest. Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern und trug sie ins Schlafzimmer.
„Okay, Häschen. Jetzt aber husch, husch ins Körbchen.“
Hannah zog mich zu ihrem Köfferchen – einem Stewardessenkoffer, den sie von ihrer Mutter „geerbt“ hatte, damit sie ihre sieben Sachen von einem Haushalt zum nächsten schleppen konnte –, nahm Gretl heraus und krabbelte unter die Decke. „Liest du mir was vor?“ Jetzt war sie natürlich hellwach. Und wer mußte sich nun mit ihr plagen?
Ich schaute, welche Bücher sie mitgebracht hatte. Zur Auswahl standen Streifenhörnchens Abenteuer, Leutnant Gelbohr auf großer Fahrt und Marshmallowbärchens Rettung. Hannah wollte die Geschichte vom Marshmallowbärchen hören.
„Berni. Wer ist der Mann da draußen?“
„Das ist Jean-Paul. Weißt du nicht mehr?“ antwortete ich. „Wir haben ihn vor zwei Wochen in der Fußgängerzone aufgegabelt. Er stand mit einem Stadtplan vor der großen, gelben Kirche, und Edat hat ihn gefragt, ob er Hilfe braucht.“
Es war eine von Edvards Eigenschaften, die ich ihm partout nicht austreiben konnte. Er sprach oft junge Männer an, und ehe ich Einspruch einlegen konnte, war er auch schon mit ihnen befreundet.
„Und wieso ist er jetzt hier?“ fragte sie weiter.
Tja, warum ist die Erde rund? Edvard brauchte eben ständig Menschen um sich herum. Außerdem:
„Edat bildet sich ein, daß Jean-Paul Max gerne kennenlernen würde.“ Natürlich hoffte ich, daß das Gegenteil der Fall war, weil ich Max Jean-Paul nicht vergönnte. Dieser Junge war zu hübsch. Seine Lippen warfen sich in der Mitte ein wenig auf, und sie glänzten immer, als ob er ständig mit der Zunge darüber fahren würde. Ihr lässiges Erscheinen reizte mich: Sie schlossen sich selten ganz; selbst beim Sprechen schien es, als würden sie ein wenig offenbleiben, immer in Erwartung, ständig bereit für …
„Du liest ja gar nicht“, maulte Hannah entkräftet.
Ich schaute sie an. Sie hielt Gretl fest an sich gedrückt, und ihre Augen waren halb geschlossen.
„Eines Tages fragte das Marshmallowbärchen das Smörehäschen, ob es mit ihm eine Reise unternehmen wollte …“ Ich erzählte, auswendig –
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