Eine wundersame Weihnachtsreise: Roman (German Edition)
Zauber für mich verloren. Ich sehe die Leute rumhetzen, überall wird von Liebe gesprochen, aber man hat das Gefühl, dass die Menschen sich zu dieser Zeit noch weniger leiden können als sonst.«
»Liegt vielleicht daran, dass die Akkus leer sind. Die Menschen haben sich das ganze Jahr abgerackert und können einfach nicht mehr. Und dann steht Weihnachten vor der Tür, man will eigentlich feiern, aber dafür muss man noch tausend Sachen besorgen. Und das macht noch mehr Stress, und ohnehin geht einem dann schon alles auf den Sack, und na ja, dann ist das eben so, ne? Aus dem Grund schenken meine Frau und ich uns nichts mehr, wir verbringen die Tage mit gutem Essen und genießen unsere Gesellschaft und den Besuch, wenn er anrückt. Glaub mir, da wird man ein ganz anderer Mensch, und wenn man an die Arbeit zurückkehrt, hat man genug Energie, um wieder freundlich zu sein.«
Der Schneepflugfahrer blickte nach vorn und schien sich einen Moment lang in seinen Gedanken zu verlieren. Dann sagte er: »Ich erinnere mich noch gut an das letzte Weihnachten, das wir mit meinem Großvater gefeiert haben. Damals war er schon krank, und wir ahnten, dass er nicht mehr lange bei uns sein würde. Aber das Weihnachtsfest verwandelte ihn noch mal. Er aß alles, was er kriegen konnte, das war vorher schon lange nicht mehr so gewesen. Und er lachte und scherzte, als sei er wieder zwanzig. Auch er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, aber das Fest, das ihm blieb, wollte er noch einmal richtig feiern, bevor er über den großen Ozean ging. Auch wenn das im Nachhinein das traurigste Fest für uns war, war es vielleicht doch auch das schönste.« Wieder machte er eine Gedankenpause, dann setzte er hinzu: »Ärgere dich nicht über das, was du an Weihnachten siehst, Mädel. Versuch, wieder zu feiern, als wärst du …« Er ließ kurz einen Blick über sie schweifen, dann fuhr er fort: »… als wärst du zehn oder elf Jahre alt. Auf jeden Fall in einem Alter, in dem dir Weihnachten noch richtig Spaß gemacht hat. Sonst kann es sein, dass du plötzlich alt bist und siehst, dass dir nur noch ein Weihnachten oder vielleicht auch gar keins mehr bleibt. Die Feste, die du gefeiert hast, kann dir keiner mehr nehmen.«
Anna nickte nachdenklich. Schweigen legte sich über die Kanzel. Nur das Brummen des Motors, leises Radiogedudel und das Schaben der Schneeschaufel waren zu hören.
Er hat recht, dachte Anna, doch wie soll ich mich je wieder so fühlen wie damals? Die Erinnerung war zwar noch da, aber die Fähigkeit, genauso zu empfinden wie damals, war ihr auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben irgendwann abhandengekommen. Und niemand wusste, ob sie sie je wiederfinden würde …
Die Stadt verschwand allmählich hinter ihnen, und vor ihnen lag die verschneite Weite der Insel. Weit und breit war kein Licht zu sehen. Es schien, als wäre der Schneepflug ein einsames Schiff auf einem unendlichen Ozean. Selten hatte sich Anna so verloren gefühlt. Wenn doch ein Licht auftauchte, gehörte es meist zu einem Auto, das sich über die schnell wieder zuwehende Fahrbahn quälte.
»Verdammt, die Leute sollten ihren Hintern zu Hause lassen«, murrte Hansen, als er einem PKW , der viel zu weit in der Mitte fuhr, ausweichen musste. »Ich verstehe nicht, wie man bei dem Wetter unterwegs sein kann.«
»Die Leute wollen eben heim«, entgegnete Anna, wenngleich sie ihm zustimmen musste. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie auch nicht mehr unterwegs sein. Aber manchmal konnte man sich das nicht aussuchen. Und die meisten Leute hatten wirklich gute Gründe, zu ihren Familien zurückzukehren.
»Außerdem sitzt neben Ihnen jemand, der auch so verrückt ist, um die Zeit noch unterwegs zu sein.«
»Aber du bist mit mir unterwegs, Mädel. Und du kannst nichts dafür, denn du bist im Zug eingeschlafen. Aber du hast recht, wahrscheinlich will da wer nach Hause. Wollen wir hoffen, dass er schneller ist als der Schnee.«
Aus irgendeinem Grund dachte Anna noch ein Weilchen an den Autofahrer. Sie stellte sich vor, dass bei ihm zu Hause seine Frau oder Freundin unruhig auf ihn wartete – und dass sie sich sehr freuen würde, wenn er heil und unversehrt zu ihr zurückkehrte.
»Sie machen einen tollen Job«, sagte sie unvermittelt, während im Radio Bing Crosby von Weißen Weihnachten träumte. Haha, Bing, komm mal nach Rügen, da hängt dir die White Christmas aber ellenlang aus dem Hals, dachte sie sarkastisch, dann hörte sie Hansen fragen: »Wieso?«
»Na
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