Einem Tag in Paris
vorkommt, das vor der Schule steht, nachdem alle anderen nach Hause gegangen sind, und auf seine Mutter wartet, die vergessen hat, es abzuholen.
Nennt man es Kernfamilie, weil es irgendwann zu einer Kernschmelze kommt?
Sie hat ihrer Mutter nichts davon gesagt, dass ihr Mann sich still und heimlich aus ihrer Ehe verabschiedet hat, dass er nur selten zu Hause ist, dass er sie kaum noch anfasst, dass er das letzte Mal, als sie eine witzige Geschichte von einer verrückten Frau erzählte, die sie anschrie, weil sie im Park stillte, nur zu ihr sagte: »Vielleicht solltest du nicht mehr stillen.« Als Riley herausfand, dass ihr Kosename für Vic, »coo-coo«, etwas ist, was Franzosen zu ihren kleinen Kindern sagen, sagte er zu ihr: »Vielleicht solltest du mich nicht mehr so nennen.« Sie hat ihrer Mutter nichts davon erzählt, dass sie mitten in der Nacht von einer Art Entsetzen, das fest in ihrer Brust steckt, aufwacht. Kein Wunder, dass ihre Mutter im übertragenen Sinn vergessen hat, sie abzuholen – sie ist eine Schwindlerin, und ihre Mutter weiß es. Früher hat sie ihrer Mutter alles erzählt, und jetzt hat sie ihrer Mutter ein Jahr lang gesagt, dass sie sie nicht in Paris besuchen soll. Und nun hat ihre Mutter Krebs.
»Comment?«, fragt Philippe.
Sie sieht zu ihm hoch. Hat sie etwas gesagt? In welcher Sprache? Der Sprache der Trauer?
»Rien«, versichert sie ihm. »Meine Mutter summt, wenn sie nachdenkt, und offenbar tue ich dasselbe.«
»En français«, sagt Philippe.
»Ach, halt’s Maul«, sagt sie zu ihm.
Er lacht. Das hat er verstanden.
Er legt ihr eine Hand auf den unteren Rücken und schiebt sie vor sich her. Das Gedränge auf dem Gehweg ist so dicht, dass sie nicht nebeneinander laufen können, und er lässt seine Hand dort, lenkt sie weiter, wie ein Tänzer, der sie auf der Tanzfläche durch komplizierte Schritte führt. Sie ist eine schreckliche Tänzerin; sie weiß nicht, wie sie einem Typen folgen soll, oder vielleicht war sie auch nur noch nie mit einem Typen zusammen, der wusste, wie er führen sollte. Vor ihrer Hochzeit nahmen sie und Vic ein paar Tanzstunden, und sie scheiterten beide kläglich, rempelten einander ständig an, drehten sich in die falsche Richtung, traten sich gegenseitig auf die Füße. Eines Abends, als sie stoned waren, tanzten sie in dem noch leeren Wohnzimmer ihrer neuen Wohnung, und auf einmal konnten sie es – sie waren Ginger und Fred –, und sie wirbelten und wiegten und drehten sich im Tanz. Eine Woche später, auf ihrer eigenen Hochzeit, mussten sie eng umschlungen den ersten Tanz hinlegen, zu verlegen, um vor der versammelten Mannschaft durch einen Merengue zu stolpern. »Ich kann deine Führung nicht spüren«, hatte Riley Vic zugeflüstert. »Was willst du denn, eine Dampfwalze?«, fragte Vic. »Mach mir die Dampfwalze, Schatz«, flüsterte Riley ihm ins Ohr, als sie sich in jener Nacht liebten.
Philippes Hand legt sich um ihre Taille und bremst sie.
»Nous sommes arrivés«, verkündet er.
Sie sieht sich um. Sie stehen in der Mitte des Blocks; rings um sie laufen Leute in alle Richtungen, und Autofahrer drücken auf die Hupe. Sie sieht Philippe an, der an einem Gebäude hochschaut, das aussieht, als ob es in den Fünfzigerjahren errichtet und seitdem nicht mehr gestrichen worden wäre. Es könnte irgendein Gebäude sein, nur dass es mitten in Paris steht und jedes andere Gebäude hier ein Kunstwerk ist. Nur dieses hier nicht. Es hat eine flache Fassade, die trübe und rußbedeckt ist, und die Fenster sind schmuddelig und düster. Wer lebt hier?
Offenbar lebt ihr flotter französischer Privatlehrer in diesem Loch, denn er tippt einen Code ein und öffnet die Haustür. Riley steht wie angewurzelt da. Sie hört einen Chor von Stimmen – Vic, ihre Mom, Cole, Gabi –, alle schreien sie an. Sie wird mit Worten gesteinigt.
»Riley«, sagt Philippe, und die Stimmen verstummen, Rileys Füße lösen sich vom Boden, und sie huscht durch die Tür ins Haus. Sie war nie leicht zu haben – und jetzt verwandelt der Klang ihres Namens aus dem Mund dieses Mannes sie in ein Flittchen.
Im Aufzug riecht es nach schmutzigen Windeln. Es ist schwer, an Sex zu denken, und Riley versucht die Luft anzuhalten, denn es ist, als würde sie Gabi in ihre Gedanken lassen, wenn sie an schmutzige Windeln denkt. Woher will sie wissen, dass die Mutter der Babysitterin Gabis Windeln wechseln wird? Bei ihrem letzten Besuch zu Hause, vor einem halben Jahr, hatte sie Gabi einmal bei
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