Einem Tag in Paris
stimmt – er hat bis spätabends gearbeitet, und sie hat normalerweise Stunden, bevor er nach Hause kam, zu Abend gegessen –, liebt sie die Erinnerung an die allabendliche Heimkehr ihres Vaters. An der Haustür zog er immer sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern. Er setzte ihr seinen Hut auf. Riley roch sein Aftershave, seinen Schweiß, die schale Luft seines Buchhalter-Büros, und sie spürte sein Gewicht, wenn das Jackett ihre kleinen Schultern nach unten zog.
»Ich vermisse Dad«, sagt Riley. Das ist nichts, was sie sonst zu ihrer Mutter sagt. Sie denkt an die Jahre der Trauer ihrer Mutter, nachdem ihr Vater vor zehn Jahren starb, Jahre, in denen sie besorgt war, ihre Mutter würde auf einmal alt werden. Aber dann zog ihre Mutter nach Florida und baute sich dort ein neues Leben auf – die Trauer hatte keine Chance bei ihr. Rileys eigenes Gefühl von Verlust wurde etwas Stilles, Verborgenes, als hätte sie jetzt, als Erwachsene, kein Recht, ihren Daddy so zu vermissen, wie sie es tut.
»Ich vermisse ihn auch«, sagt ihre Mutter. »Es ist still in einer Wohnung, wenn man ganz allein ist. Ich lasse den ganzen Tag den Fernseher laufen, nur wegen des Geräuschs.«
»Wer fährt dich zu deiner OP ?«, fragt Riley.
Sie hat keine Ahnung, ob ihre Mom einen Freund hat, obwohl es viele Männer in ihrem Leben zu geben scheint. Da ist Art, der Trainer im Fitnessstudio, der schwul sein könnte, aber wenn er es nicht ist, Mom, dann geh und schnapp ihn dir! Und Stitch, der Bauarbeiter, der mehrmals die Woche zum Abendessen vorbeikommt, obwohl in ihrer Eigentumswohnung gar keine Arbeiten mehr zu erledigen sind. Das Letzte, was Riley hörte, war, dass ein Typ namens Al mit Mom jeden Morgen ein paar Bahnen schwamm.
»Wally«, sagt Mom schließlich.
»Wer ist denn Wally?«
»Du kennst doch Wally.«
»Nie von ihm gehört.«
»Egal. Er fährt mich nur zum Krankenhaus. Ich schaffe das schon.«
»Was ist egal?«
»Wer er ist. Er ist nichts Ernstes.«
»Weiß er, dass er nichts Ernstes ist?«
Philippe ist nichts Ernstes, denkt sie. Warum habe ich damals nicht auf meine Mutter gehört?
»Geh mit deinem kleinen Prinzen zu einer dieser schicken Bäckereien. Sag ihm, seine Oma will ihm ein paar von diesen französischen Gebäckstücken kaufen, von denen du ständig redest.«
Riley nickt und murmelt etwas und legt auf. Cole ist noch immer völlig gebannt von der chanteuse unten im Hof. Riley sieht aus dem Fenster.
Das Mädchen im Hof beendet sein Lied und verbeugt sich. Sie wirft ihm eine Kusshand zu, und Cole fängt sie auf, ein Trick, den seine Oma ihm vor einem halben Jahr beigebracht hat. Er ist verliebt, denkt Riley. Für den Rest seines Lebens wird das hier für ihn Liebe sein.
»Oma will dir ein pain au chocolat kaufen«, sagt Riley.
»Wie denn? Oma ist in Florida.«
»Sie hat mir gesagt, ich soll dir eines kaufen. Wenn Gabi aufwacht, gehen wir ein bisschen spazieren, Schatz.«
»Mama weint«, sagt Cole, als er sie jetzt zum ersten Mal ansieht.
»Nase läuft«, sagt Riley. »Muss ich putzen.« Und dann läuft sie in die Küche zu den Taschentüchern.
Mit Gabi in ihrem Tragetuch und Cole neben sich beschließt Riley, sich auf eine Suche zu begeben: um das gottverdammte beste pain au chocolat in ganz Paris zu essen. Beim letzten Treffen ihrer Müttergruppe für Auslandsamerikaner – noch so einer erbärmlichen Erfahrung – unterhielten sich alle über ihre Lieblingsparks, Lieblingskinderboutiquen, kinderfreundliche Lieblingsrestaurants, Lieblingskinderärzte und natürlich Lieblingspâtisserien. Bei ihrem nächsten Treffen, stellt sich Riley vor, wird sie das Gerücht in die Welt setzen: Bester Privatlehrer für eine Sexorgie mitten am Tag: Philippe!
Sie steuert numéro un auf der Pâtisserie-Liste an. Der Regen hat aufgehört, und sie muss die Geister aus ihrer Psyche vertreiben. Irgendwann zwischen jetzt und heute Nacht, wenn Victor der Sieger zu ihr ins Bett kriecht, muss sie sich überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen will.
Ihr Handy klingelt.
»Hallo?«
»Riley.«
»Philippe?« Seine Stimme klingt anders, wie in Honig getaucht.
»Treffen wir uns auf ein Glas Wein.«
»Du sprichst ja Englisch.«
»Die Französischstunde ist vorbei.«
»Du sprichst Englisch. Die ganze Zeit sprichst du Englisch.«
»Nicht so gut. Aber dein Französisch ist – wie sagt man –, es nervt.«
Sein Akzent ist nicht charmant wie sonst so oft bei Franzosen, wenn sie eine Fremdsprache sprechen,
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