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Einem Tag in Paris

Einem Tag in Paris

Titel: Einem Tag in Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Sussman
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purer mütterlicher Hingabe auf mich hinunter. Was mit diesem Foto passiert ist? Ihr Manager kam eines Abends zum Essen zu uns, hat sich dieses Foto geschnappt und ihr Gesicht herausgeschnitten und diesen hingerissenen Blick auf den Titel irgendeiner dämlichen Zeitschrift gesetzt. Und jetzt lächelt sie auf die ganze gottverdammte Welt hinunter. Ich bin nirgends auf diesem Bild.«
    »Also hat es doch etwas mit Liebe zu tun«, sagt Chantal.
    »Nein. Es hat etwas mit meinem Verschwinden zu tun. Paff, ich bin weg. Ich bin niemand, ich bin jeder. Ich bin auf dem College. Ich bin in Spanien. Ich bin in einem Kloster.«
    »Du hättest mit mir darüber reden können«, sagt Jeremy leise.
    »Ich musste aufhören zu reden. Das war alles, was ich auf dem College je getan habe. Reden, reden, reden. Es gibt so viele Wörter. Man kann Stunden mit ihnen ausfüllen. Und dann, wenn man aufhört zu reden, bleibt die Zeit stehen. Man sitzt da, und alles öffnet sich, und man kann zum ersten Mal seine eigenen Gedanken hören.«
    Sie hören auf zu reden. Aber Jeremys Verstand fühlt sich an, als würde er sich verschließen. Er kann nichts in seinem Gehirn hören bis auf ein leises Summen, als wäre dort drinnen ein statisches Rauschen, eine schlechte Verbindung, ein Radio, das einen Sender nicht finden kann.
    »Ich glaube, ich verstehe«, sagt Chantal leise.
    Jeremy sieht sie flehend an. Helfen Sie mir, will er sagen. Er will seine Tochter verstehen. Er will Chantal kennenlernen. Aber das Problem ist nicht, die Wörter zu verstehen. Er kann jedes einzelne davon übersetzen.
    In der Stille zerspringt Glas auf der anderen Seite des Innenhofs, schreckt ihn auf. Er sieht auf – eine Teetasse ist dem Kellner aus den Händen geglitten. Einen Augenblick lang hatte er den Rest der Welt vergessen, diese Ecke von Paris, diese anderen Gäste, den süßen Pfefferminztee auf dem Tisch vor ihnen.
    »Jemand hat mir von diesem Kloster in der Nähe von Arles erzählt. Ich bin mit einer Freundin hingefahren, aber sie ist nach einer Woche abgereist. Ich bin zwei Monate geblieben.« Sie hält einen Augenblick inne und lächelt. »Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich so viel rede.«
    Jeremy legt ihr eine Hand auf den Arm.
    »Ich höre zu«, sagt er.
    »Niemand hat mir je gesagt, dass ich so sein müsste wie Mom«, sagt sie schlicht.
    Sie lächelt ihn an, das süßeste Lächeln, das er je gesehen hat. Dann wendet sie sich an Chantal.
    »Meine Mutter ist eine Naturgewalt«, sagt sie.
    Chantal nickt.
    »Ich bin nicht sie.«
    Das sagt sie zu Jeremy. Er nickt, dann beugt er sich vor und küsst sie auf die Wange. Sie riecht wie jemand anders, wie eine erwachsene Frau. Vielleicht ist es eine neue französische Seife oder ein Parfüm, das sie gekauft hat. Einen Augenblick lang sehnt er sich nach einer jüngeren Lindy, einer ohne kahl rasierten Kopf und Zornesröte. Einer, die nicht auf einer solch komplizierten Suche ist. Aber er ist mit ihr erwachsen geworden. Auch er ist jetzt jemand anders. Vor zehn Jahren hat er sich Hals über Kopf in Dana und ihre Tochter verliebt. Vor fünf Jahren dachte er, er hätte alles unter Dach und Fach – er war ihr Fels, der, der sie zusammenhalten würde. Und jetzt ist er völlig verunsichert. Erst gestern hat er seinen Stuhl beim Abendessen zurückgeschoben und zugesehen, wie Dana eine lange Geschichte von ihrer Reise nach Argentinien erzählte, davon, wie sie auf den Gipfel eines Berges in den Anden gestiegen waren und wie sich die Wolken geteilt und die Herrlichkeit der Welt offenbart hatten. Jeremy hörte zu und dachte: Habe ich mich selbst in ihr verloren?
    »Dein Kloster klingt nach einem sehr guten Ort«, sagt er.
    »Das Essen war beschissen«, sagt Lindy auf Englisch. Auf einmal klingt sie wieder wie ein Kind. Mit diesen Worten steckt sie sich einen Keks in den Mund.
    Chantal sieht Jeremy über den Rand ihrer Teetasse an. Ihre Augen blicken amüsiert, als hätte sie dem Mädchen ihr freches Benehmen verziehen.
    Er will sie fragen, ob sie ihren Eltern nahesteht. Erzählt sie ihnen ihre Geheimnisse? Selbst wenn Lindy ihm etwas anbietet – einen flüchtigen Blick auf ihr Leben in den letzten Monaten –, sagt sie ihm etwas anderes: Ich gehöre nicht mehr dir. Du weißt nicht mehr alles über mich.
    »Als ich einundzwanzig war, zog ich auf eine Insel im Indischen Ozean«, sagt Chantal. Ihre Augen huschen von Jeremy zu Lindy und wieder zurück. »Ich wollte irgendetwas sein – ich weiß nicht, irgendetwas anderes

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