Einer kam durch
hat mein Rad!« – da stellte ein junger Mann dem Flüchtenden geistesgegenwärtig ein Bein. Der Rest war einfach. Der Polizist warf dem Dieb seinen schwarzen Umhang über den Kopf und setzte sich auf ihn. Cramer brüllte auf wie ein angeschossener Löwe, denn die Karbidlampe des umgestürzten Fahrrades fauchte ihm brennend an den Hals, aber als der Polizist seinen Umhang wegzog, standen die Menschen wie eine Mauer um den Gefangenen herum – er war wehrlos.
Sie brachten ihn auf die Polizeiwache. Zuerst behauptete er, ein holländischer Flüchtling zu sein, der in der Munitionsfabrik arbeitete. Es galt, Zeit zu gewinnen, damit Manhart und die anderen nicht gleich verfolgt würden. Aber diese Geschichte ließ sich nur zwei Minuten lang aufrechterhalten: Cramers Kennkarte war zu offensichtlich eine Fälschung. Er wurde durchsucht. Unter dem im Lager geschneiderten Zivilmantel trug er seine Luftwaffenuniform, von der alle Abzeichen entfernt waren. Aber er trug Schulterstücke und Orden, darunter das Ritterkreuz, in seiner Tasche, um sie vorzeigen zu können, wenn einer auf den Gedanken gekommen wäre, er sei ein Saboteur oder ein Spion in Zivil.
Um wenigstens noch Verwirrung zu stiften, gab Cramer nicht seinen eigenen Namen an, sondern den eines Gefangenen, der noch im Lager war. Und um die Aufklärung weiter zu komplizieren, behauptete er, am Vortage aus Grizedale Halle im Seengebiet geflohen und per Anhalter hierher gekommen zu sein. Er hoffte, die Polizei würde sich wegen der Entfernung und weil die Flucht ja schon gestern erfolgt und inzwischen gewiß längst entdeckt war, zufrieden geben und bis zum Morgen warten, ehe sie seine Angaben nachprüfte. Aber der Wachhabende entwickelte ein geradezu penetrantes Pflichtbewusstsein: er rief sofort Grizedale an, und um halb eins wußte er schon, daß dort am Vortage kein Gefangener entwichen war und daß der Mann, dessen Namen Cramer angegeben hatte, bereits vor Wochen nach Swanwick verlegt worden war.
Nun, Swanwick war nicht weit, und so kam es, daß im Lager schon um Viertel vor ein Uhr Alarm gegeben wurde. Die britische Stammkompanie trieb die Bewohner des Gartenhauses mit unfreundlichen Worten und unter scharfer Bewachung zusammen. Es läßt sich verstehen, daß die Tommies über diese nächtliche Störung mehr verärgert waren als die Deutschen, die nun alles daransetzten, eine korrekte Zählung zu verhindern.
Aber wegen des Fliegeralarms durfte draußen kein Licht gemacht werden, und so wurde der lange Mittelgang des im offenen Viereck gebauten Gartenhauses zum Appellplatz. Das durchkreuzte natürlich das geplante Bäumchen-verwechsle-dich-Spiel, denn man trat in Linie zu einem Gliede an. Immerhin hatte sich niemand besonders beeilt, weder beim Aufstehen noch beim Antreten – einige Gefangene waren zunächst einmal auf der Latrine verschwunden und mußten erst herangeholt werden –, dann hatte beim Abzählen der stimmgeübte Leutnant Bein gleich zwei Nummern nacheinander aufgerufen, die eine mit tiefer und die andere mit hoher Stimme. Leider scheiterte der Trick daran, daß sein rechter Nebenmann nicht gleich schaltete und in Verwirrung geriet, so daß von neuem abgezählt werden mußte. Und als nun ein anderer Gefangener die gleiche Masche wiederholen wollte, schnappte ihm zum Gelächter aller übrigen die Stimme dabei über. Schließlich zählten der britische Lagerkommandant und sein MP-Sergeant ›Feldwebel Saftnase‹ ihre Gefangenen selbst, indem sie die Linie entlanggingen und laut vor sich hinzählend jedem einzelnen auf die Brust tippten. Alles das hatte Zeit gekostet, und so war es doch mittlerweile zwei Uhr geworden, als das Resultat endlich feststand: fünf Gefangene fehlten.
Bis die Schreiber allerdings die Namen und Dienstgrade der Ausgebrochenen festgestellt hatten, vergingen weitere drei Stunden. Zunächst versuchten sie es mit namentlichen Aufrufen. Als der Name Cramer an die Reihe kam, wurde gleich von drei Seiten »Hier!« gerufen. Zwar hatte man sich im Mittelgang des Haupthauses auf einen Stellvertreter für Cramer geeinigt, aber die Linie verlief ja links und rechts um die Ecken in die seitlichen Flügel des Gartenhauses hinein, und da Cramer nach dem Alphabet ziemlich bald aufgerufen wurde, konnte nicht so rasch durchgeflüstert werden, wer für ihn antworten sollte. So war Cramers Name der erste, bei dem den Engländern etwas auffiel, aber er blieb auch der letzte, denn Manhart schien aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen nicht
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