Einer kam durch
Werra über nichts anderes nach als darüber, was er der Polizei erzählen würde und wie er sich benehmen sollte, wenn der Polizist kam. Aber was sollte auch schon passieren, sicher würde der Polizist nicht anders reagieren als der Bahnbeamte. Der war erleichtert gewesen, als er den Fall an die Polizei gemeldet hatte, wahrscheinlich würde der Polizist ebenso froh sein, wenn er ihn an die RAF abschieben konnte. Zur Flucht war es jetzt sowieso zu spät. Am besten würde es wohl sein, von einem militärischen Geheimauftrag zu sprechen, den er in Dänemark ausgeführt hatte. Damit konnte jede Diskussion über die Art seines Fluges, über Bewaffnung, Flugroute usw. abgeschnitten werden. Er würde darauf bestehen, daß die Polizei gleich von hier aus den nächsten Flugplatz anriefe. Der Polizist selbst mußte telefonieren. Man mußte ihm weismachen, daß es nur an der Polizei von Codnor Park läge, der Royal Air Force einen kriegswichtigen Dienst zu leisten und einem in Schwierigkeiten geratenen alliierten Flieger zu helfen. Je mehr der Polizist von der Bedeutung seiner Person überzeugt würde, desto glaubhafter würde er am Telefon wirken. Vielleicht war es gar nicht schlecht, wenn Werra sozusagen von der Polizei bei der RAF eingeführt würde – am Ende würden die gar nicht auf den Gedanken kommen, ihn dann noch mal zu überprüfen.
Der Dienstmann rührte den Tee in der Kanne um und goß ein.
»Wie ist es, Captain«, sagte Sam Eaton, »ich glaube Sie können auch einen Schluck vertragen.«
»Ja, besten Dank, eine Tasse Tee kann ich jetzt gebrauchen!«
Werra ging zum Kamin und setzte sich. Aus der Tasche seiner Kombination zog er einen Riegel Cadbury-Schokolade und bot davon seinen Gastgebern an. Die lehnten zwar Schokolade ab, bedienten sich aber gern mit Zigaretten aus der ›Players‹-Packung. Gemeinsam rauchten die drei, schlürften ihren heißen Tee und unterhielten sich gemütlich am Kamin. Draußen war es immer noch dunkel.
»Schon mal Bomben auf Berlin geschmissen?« fragte Eaton.
»Nein, ich bin ja beim Küstenschutz-Kommando.«
»Aha, Schifffahrt, U-Boote und so?«
»Ja, meistens. Aber vergangene Nacht war's anders. Da haben wir den Bahnhof von Esbjerg an der dänischen Westküste angegriffen.«
»Und wie kriegten Sie dann Ihren Treffer ab?«
»Ja, nun, die Scheinwerfer hatten uns erwischt, als wir die Küste überflogen. Konnten sie einfach nicht mehr loswerden. Ich bin meinen Angriff trotzdem geflogen. Aber kaum hatte ich die Bomben draußen, da – rumms! – Treffer in der rechten Tragfläche. Und dann hatten wir anschließend ein paar sehr spannende Minuten.«
»Hm, ja – eigentlich toll, so mitten in der Nacht hoch oben in der Luft. Wie hoch eigentlich?«
»Na, so drei-, viertausend Meter.«
»Ja, und dann? Wieso haben Sie's dann noch geschafft, wieder rüberzukommen?«
»Ist nicht so wild, wir hatten ja glücklicherweise genug Höhe, sind dann sogar noch ein bißchen gestiegen, ehe der Steuerbordmotor verreckte … und dann sind wir so langsam herübergeschaukelt, aber schließlich sackten wir immer mehr ab und …«
Werra erzählte weiter, und die beiden Eisenbahner hörten staunend zu. Er war jetzt in glattem Fahrwasser. Was er erzählte, war eine Mischung von eigenen Erlebnissen und von Berichten über Abschüsse, die er von Bomberpiloten gehört hatte. Außerdem hatte er fleißig britische Zeitungen gelesen, und Gott sei Dank gab es ja auch bei den Engländern Kriegsberichter. So fiel es ihm nicht schwer, sein Garn zu spinnen.
»Sie sagen, daß Sie Verschiebebahnhöfe gebombt haben?« sagte der Schalterbeamte. »Vielleicht können Sie mir dann eine Frage beantworten, über die ich schon oft nachgedacht habe: Kann man die Bahnsignale eigentlich von oben erkennen?«
»Nur, wenn man tief genug die Schienen entlangfliegt.«
»Ach so.«
»Dicke Sache heute nacht«, warf der Dienstmann ein. »Derby und Sheffield sollen allerhand abgekriegt haben.«
»Ja«, meinte der Beamte, »aber in Coventry und London ist es noch schlimmer zugegangen. Wir hier draußen können überhaupt nicht klagen. Wir haben bisher immer Glück gehabt. Wie lange, glauben Sie, Captain, wird der Krieg noch dauern?«
»Na, ich glaube schon noch zwei Jahre.«
»Aber am Ende werden wir ihn doch gewinnen, ja?«
»Na klar«, sagte von Werra, »siegen werden wir sicher.«
Der Dienstmann setzte seinen Becher ab und ging aus der Tür. Sam Eaton kehrte zu seinem Tisch zurück und fing an, das Geld zu
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