Einfach göttlich
Außerdem hat er Tausende von Menschen einem schlimmeren Schicksal ausgeliefert. Er stirbt für eine gute Sache.«
»Für eine gute Sache?«
»Für unser Überleben.«
Irgendwo zwischen den Felsblöcken ertönte ein Knurren. Es war nicht laut, aber es klang ausgesprochen verlangend. Brutha wich zurück.
»Es ist falsch, Menschen Löwen zum Fraß vorzuwerfen!«
» Er hat so etwas des öfteren getan.«
»Ja. Aber ich lehne es ab.«
»Na schön. Wir klettern auf eine Klippe, und wenn der Löwe zu fressen beginnt, erledigst du ihn mit einem gut gezielten Stein. Wahrscheinlich verliert Vorbis nur einen Arm oder ein Bein, das er kaum vermissen wird.«
»Nein! So darf man nicht mit Menschen umspringen, wenn sie hilflos sind.«
»Ich kann mir keinen besseren Zeitpunkt dafür vorstellen.«
Erneut ertönte das Knurren. Die Entfernung schien geringer geworden zu sein.
Brutha blickte auf die verstreuten Knochen hinab. Zwischen ihnen, halb im Geröll verborgen, lag ein Schwert. Es war alt, schlicht und vom Sand zerkratzt – aber es war eine Waffe. Der Novize griff danach.
»Das andere Ende«, sagte Om.
»Ich weiß!«
»Kannst du mit so einem Ding umgehen?«
»Keine Ahnung!«
»Ich hoffe, du lernst schnell.«
Der Löwe kam zum Vorschein.
Es wurde bereits darauf hingewiesen: Wüstenlöwen sind anders als die in der Steppe. Früher haben sie sich geähnelt, damals, als die Wüste noch grünes Waldland war 7 . Zu jener Zeit lagen die Löwen die meiste Zeit über im Schatten, um zwischen den Mahlzeiten 8 majestätisch und erhaben auszusehen. Der Wald wich schließlich Büschen und Sträuchern, und die Büsche und Sträucher verwandelten sich bald in armseliges Gestrüpp. Ziegen und Menschen verließen die Region, und selbst ihre Städte verschwanden.
Die Löwen blieben. Es gibt immer etwas zu essen, wenn man hungrig genug ist. Manchmal beschlossen Leute, die Wüste zu durchqueren. Hinzu kamen Eidechsen und Schlangen. Von einer ökologischen Nische konnte in diesem Zusammenhang kaum die Rede sein, aber die Wüstenlöwen hielten sich verbissen daran fest – im wahrsten Sinne des Wortes.
Dieses Exemplar bekam es nicht zum erstenmal mit Menschen zu tun.
Seine Mähne war verfilzt, und im Fell bildeten alte Narben ein Zackenmuster. Das Tier schleppte sich Brutha entgegen, wobei es die Hinterbeine über den Boden nachzog.
»Er ist verletzt«, sagte Brutha.
»Gut«, erwiderte Om. »Solche Geschöpfe liefern eine Menge Fleisch. Es ist sehnig, aber…«
Der Löwe brach zusammen und röchelte. Ein Speer ragte aus seiner Seite. Dutzende von Fliegen summten hin und her – solche Insekten finden immer etwas Eßbares, ganz gleich in welcher Wüste.
Brutha ließ das Schwert sinken. Om zog den Kopf ein.
»O nein«, murmelte er. »Zwanzig Millionen Menschen gibt es auf dieser Welt, und der einzige von ihnen, der an mich glaubt, neigt zum Selbstmord…«
»Wir können den verletzten Löwen nicht einfach sich selbst überlassen«, sagte Brutha.
»Und ob wir das können. Es ist sogar vernünftig. Löwen läßt man am besten in Ruhe .«
Brutha sank auf die Knie. Der Löwe öffnete ein verkrustetes gelbes Auge und war zu schwach, als daß er auch nur hätte versuchen können ihn zu beißen.
Bruthas Kenntnisse in Hinsicht auf die Anatomie von Tieren war bestenfalls rudimentär. Einige Inquisitoren verfügten über ein beneidenswertes Wissen bezüglich der inneren Struktur des menschlichen Körpers – es war für all jene verboten, die einen Leib nicht öffnen durften, während noch Leben in ihm steckte –, aber von »Medizin« in dem Sinne hielt man in Omnien nicht viel. Trotzdem gab es in jedem Dorf jemanden, der offiziell keine Knochen richtete, nichts von der Heilwirkung gewisser Pflanzen wußte und vor allem deshalb der Quisition entging, weil ihm dankbare Patienten Schutz gewährten. Außerdem: Jeder Bauer kannte das eine oder andere Familienrezept. Heftige Zahnschmerzen erschüttern selbst den stärksten Glauben.
Brutha griff nach dem Schaft, und der Löwe stöhnte.
»Kannst du zu ihm sprechen?« fragte der Novize.
»Es ist ein Tier «, entgegnete Om.
»Das gilt für dich auch. Du solltest versuchen, den Löwen zu beruhigen. Wenn er nervös wird…«
Om konzentrierte sich.
Das Selbst des Löwen enthielt nur Schmerz, einen dichten Nebel aus Pein, der den fast immer vorhandenen Hunger in eine ferne Ecke des Empfindens verdrängte. Om trachtete danach, den Schmerz einzukapseln, ihn aus der Erfahrungswelt des Tiers
Weitere Kostenlose Bücher