Einfach göttlich
zu lösen. Gleichzeitig bemühte er sich, nicht an die möglichen Konsequenzen zu denken: Der Magen des Geschöpfs schien bereits seit Tagen leer zu sein…
Der Löwe grollte, als Brutha den Speer aus der Wunde zog.
»Omnianisch«, stellte der Novize fest. »Mit anderen Worten: Das Tier ist erst vor relativ kurzer Zeit verletzt worden – und zwar von einem der Soldaten, die nach Ephebe zogen. Sie müssen in der Nähe dieser Felsen vorbeigekommen sein.« Er riß einen Streifen von seiner Kutte ab und versuchte, die Wunde zu reinigen.
»Wir wollen den Löwen nicht heilen, sondern essen !« rief Om. »Was soll das? Glaubst du etwa, daß er dir dafür dankbar sein wird?«
»Er wünschte sich Hilfe.«
»Und bald wünscht er sich eine Mahlzeit. Hast du daran gedacht?«
»Sein Blick weckte Mitleid in mir.«
»Vermutlich hat er nie zuvor für eine ganze Woche genug Futter auf zwei Beinen gesehen«, erwiderte Om.
Nun, das stimmte nicht ganz. Hier in der Wüste verlor Brutha ebenso schnell an Gewicht wie ein Eiswürfel. Das erhielt ihn am Leben! Der Junge kam einem menschlichen Kamel gleich.
Brutha stapfte zu den Felsen, und unter seinen Sandalen knirschte eine Mischung aus Knochen und kleinen Steinen. Die Felsblöcke formten ein Labyrinth aus halb offenen Tunneln und Höhlen. Dem Geruch nach lebte der Löwe hier schon seit einer ganzen Weile, und offenbar war ihm oft übel gewesen.
Eine Zeitlang beobachtete Brutha den nächsten Höhleneingang.
»Was ist so interessant an der Höhle eines Löwen?« fragte Om.
»Der Umstand, daß dort Treppenstufen nach unten führen«, antwortete Brutha.
D idaktylos fühlte die Menge. Sie füllte die ganze Scheune.
»Wie viele sind hier versammelt?« erkundigte er sich.
»Hunderte!« erwiderte Urn. »Die Leute sitzen sogar auf den Dachsparren! Und… Meister?«
»Ja?«
»Es sind sogar einige Priester hier! Und Dutzende von Soldaten!«
»Keine Sorge«, sagte Simony. Er gesellte sich zu den Philosophen, welche auf einer Plattform standen, die aus fünf Fässern bestand. »Die hier versammelten Personen glauben an die Schildkröte, ebenso wie Didaktylos. Wir haben mehr Freunde, als wir dachten!«
»Aber ich…«, begann Didaktylos hilflos.
»Alle Anwesenden hassen die Kirche von ganzem Herzen«, fügte Simony hinzu.
»Aber es lag mir fern…«
»Sie brauchen jemanden, der sie führt.«
»Aber ich wollte nie…«
»Ich weiß, daß du uns nicht enttäuschen wirst. Du bist ein Mann der Vernunft. Urn, komm hierher. Ich möchte dir einen Schmied vorstellen…«
Didaktylos wandte sich der Menge zu und fühlte das heiße, stumme Schweigen ihrer Blicke.
J eder Tropfen wuchs minutenlang.
Es wirkte fast hypnotisch. Brutha beobachtete die einzelnen Tropfen fasziniert. Fast unmerklich schwollen sie an, um schließlich zu fallen – seit Jahrtausenden.
»Wie ist das möglich?« fragte Om.
»Nach dem Regen sickert Wasser in den Boden«, antwortete Brutha. »Es sammelt sich im Felsgestein. Wissen Götter über solche Dinge nicht Bescheid?«
»Das ist nicht nötig.« Om sah sich um. »Laß uns gehen. Dieser Ort gefällt mir nicht.«
»Es ist doch nur ein alter Tempel. Hier ist nichts.«
»Genau das meine ich.«
An einigen Stellen bildeten Sand und Schutt große Haufen. Licht glänzte durch die Löcher im Dach, das sich hoch oben am Hang befand. Brutha erinnerte sich an die Kletterpartie und überlegte, wie viele der seltsam geformten Felsen in der Wüste einst Gebäude gewesen sein mochten. Dies hier war gewaltig gewesen: vielleicht ein riesiger Turm. Und dann kam die Wüste.
Hier gab es keine flüsternden Stimmen. Selbst die geringen Götter hielten sich von den verlassenen Tempeln fern, aus dem gleichen Grund, der Menschen veranlaßt, Friedhöfe zu meiden. Man hörte nur das gelegentliche Pling der herabfallenden Wassertropfen.
Sie fielen in einen seichten Tümpel vor den Resten eines Altars. Von dort aus hatten sie im Verlauf von Äonen eine Furche in den harten Stein gewaschen, bis hin zu einer runden Grube, die bodenlos zu sein schien. An einigen Stellen lagen umgestürzte Statuen. Ihre Proportionen waren übertrieben; sie sahen aus wie Tonfiguren, die Kinder in Granit gemeißelt hatten. Die gegenüberliegende Wand schien irgendwann einmal ganz von einem Basrelief bedeckt gewesen zu sein, doch an vielen Stellen hatte es sich gelöst. Der Rest zeigte seltsame Muster, die hauptsächlich aus Tentakeln bestanden.
»Wer hat diesen Tempel erbaut?« fragte
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