Einfach göttlich
Brutha.
»Ich weiß es nicht.«
»Welcher Gott wurde hier verehrt?«
»Keine Ahnung.«
»Die Statuen bestehen aus Granit – obwohl es hier überhaupt keinen Granit gibt.«
»Jene Leute müssen sehr fromm gewesen sein, wenn sie sich die Mühe machten, die Steine bis hierher zu schleppen.«
»Und der Altar weist Rillen auf.«
»Ja, ich schätze, die hiesigen Gläubigen waren sehr fromm. In den Rillen floß vermutlich Blut ab.«
»Hat man hier Menschen geopfert?« fragte Brutha.
»Ich weiß es nicht! Ich will fort von hier!«
»Warum? Hier gibt es Wasser, und es ist angenehm kühl…!«
»Hier hat einmal ein Gott gelebt. Ein mächtiger Gott. Tausende verehrten ihn. Ich spüre es ganz deutlich. Ein Schatten seiner Gegenwart haftet noch immer an den Wänden. Ein Großer Gott. Prachtvoll waren seine Domänen, großartig sein Wort. In seinem Namen brachen Heere auf, um zu erobern und zu töten. Etwas in der Art. Und jetzt weiß niemand – weder du noch ich noch sonst jemand –, wie jener Gott hieß oder wie er aussah. Löwen trinken an heiligen Orten, und Krabbelbiester mit acht Beinen – eins ist gerade auf deinen rechten Fuß gekrochen, wie heißen sie noch, haben Fühler und so – krabbeln unter dem Altar. Verstehst du?«
»Nein«, erwiderte Brutha.
»Hast du keine Angst vor dem Tod? Immerhin bist du ein Mensch!«
Brutha überlegte. Knapp zwei Meter entfernt starrte Vorbis zu einem Stück Himmel hinauf, das hinter einer Öffnung im geborstenen Dach leuchtete.
»Er ist wach. Er spricht nur nicht.«
»Und wenn schon. Ich habe dich etwas gefragt.«
»Nun, manchmal, beim Dienst in den Katakomben… Dort kann es unheimlich werden… Ich meine, all die Totenschädel und Knochen und so… Und im Buch heißt es…«
»Na bitte.« Bitterer Triumph klang aus Oms Stimme. »Du weißt es nicht. Das hindert alle dran, einfach überzuschnappen: die Ungewißheit, das Gefühl, daß vielleicht alles gut wird. Aber für Götter sieht die Sache anders aus. Für Götter gibt es keinen Zweifel. Wir wissen. Kennst du die Geschichte vom Spatz, der durch ein Zimmer fliegt?«
»Nein.«
»Die kennt doch jeder.«
»Ich nicht.«
»Das Leben wird dabei mit einem Spatz verglichen, der durch ein Zimmer fliegt. Draußen ist alles dunkel. Und während der Spatz hin und her flattert, kommt es kurz zu Wärme und Licht.«
»Stehen irgendwelche Fenster offen?« fragte Brutha.
»Stell dir vor, der Spatz zu sein und von der Dunkelheit zu wissen. Stell dir vor, daß es nachher nichts gibt, an das man sich erinnern kann, abgesehen von jenen wenigen Sekunden der Wärme und des Lichts.«
»Es fällt mir schwer.«
»Oh, natürlich fällt es dir schwer. Weil so Götter empfinden. Deshalb erscheint mir der Tempel wie ein… Leichenhaus.«
Brutha sah sich in der uralten Ruine um.
»Nun… weißt du auch, wie es ist, ein Mensch zu sein?«
Oms Kopf wich ein oder zwei Zentimeter weit unter den Panzer zurück – das Äquivalent eines Schulterzuckens.
»Im Vergleich mit der Existenz als Gott? Ganz einfach. Man wird geboren. Man hält sich an einige Regeln. Man gehorcht. Man stirbt. Man gerät in Vergessenheit.«
Brutha starrte ihn an.
»Stimmt was nicht?«
Der Novize schüttelte den Kopf, stand auf und ging zu Vorbis.
Der Diakon hatte Wasser aus Bruthas gewölbten Händen getrunken. Doch er wirkte nach wie vor geistesabwesend, so als befände sich sein Selbst an einem ganz anderen Ort. Er bewegte sich, er trank, er atmete, aber diese Aktivitäten betrafen allein den Körper. Die dunklen Augen öffneten sich nun und schienen etwas zu betrachten, das für alle anderen verborgen blieb. Nichts deutete darauf hin, daß die Pupillen wirklich etwas sahen. Brutha zweifelte kaum daran: Wenn er fortgegangen wäre, hätte Vorbis auf dem Boden gesessen, bis er schließlich ganz langsam umkippte und starb. Der Leib des Exquisitors weilte im Hier und Jetzt, doch der Aufenthaltsort des Bewußtseins ließ sich nicht mit Hilfe eines normalen Atlasses bestimmen.
Derzeit fühlte sich Brutha so allein, daß er sogar Vorbis’ Nähe als angenehme Gesellschaft empfand.
»Warum vergeudest du deine Zeit mit ihm?« fragte die Schildkröte. »Er hat Tausende von Menschen umgebracht!«
»Ja, aber vielleicht glaubte er, damit deinen Wünschen zu genügen.«
»Ich habe nie einen entsprechenden Wunsch geäußert.«
»Du bist immer gleichgültig gewesen«, sagte Brutha.
»Aber ich…«
»Sei still!«
Om blinzelte verblüfft.
»Du hättest den Menschen
Weitere Kostenlose Bücher