Einfach göttlich
Dunkelheit aus den Straßen und Gassen zu vertreiben. Außerdem: Die meisten Leute in Ephebe gingen früh schlafen. Brutha und Vorbis begegneten nur zwei Passanten, die nicht auf sie achteten.
»Sie bewachen den Hafen«, sagte der Exquisitor ruhig. »Aber der Weg zur Wüste… Jeder weiß, daß niemand die Wüste durchqueren kann. Bestimmt ist das auch dir klar, Brutha.«
»Ja«, erwiderte der Novize. »Aber jetzt ahne ich, daß diese Annahme nicht der Wahrheit entspricht.«
»In der Tat. Ah, das Tor. Gestern standen hier zwei Soldaten.«
»Ich habe zwei gesehen, ja.«
»Und jetzt ist es Nacht, und man hat das Tor geschlossen. Aber vermutlich weilt doch ein Wächter in der Nähe. Warte hier.«
Vorbis verschwand im Schatten. Brutha blickte starr geradeaus, und nach einer Weile hörte er gedämpfte Stimmen.
Das leise Gespräch endete ganz plötzlich mit einem kaum hörbaren Stöhnen.
Brutha wartete weiter.
Schließlich begann er zu zählen.
Bei zehn kehre ich zurück.
Na schön, bei zwanzig.
Also gut, bei dreißig. Aber dann gehe ich wirklich…
»Ah, Brutha. Laß uns gehen.«
Das Herz schlug dem Novizen bis zum Hals, und er schluckte, als er sich langsam umdrehte.
»Ich habe dich nicht gehört, Herr«, brachte er hervor.
»Ich kann sehr leise sein.«
»Ist ein Wächter in der Nähe?«
»Jetzt nicht mehr. Hilf mir bei den Riegeln.«
In das Haupttor war eine kleinere Tür eingelassen. Haß betäubte Bruthas Gedanken, als er die Riegel mit dem Handballen beiseite schob. Mit einem leisen Knarren schwang die Tür auf.
Draußen zeigten sich die Lichter ferner Bauernhöfe – und finstere Finsternis.
Die Dunkelheit strömte herein.
H ierarchie, sagte Vorbis später. Die Ephebianer dachten nicht in hierarchischen Begriffen.
Kein Heer konnte die Wüste durchqueren. Aber einem kleinen Heer mochte es gelingen, ein Viertel des Weges zurückzulegen und einen Wasservorrat zurückzulassen. Wenn sich dieser Vorgang mehrmals wiederholte, bot sich einem anderen kleinen Heer die Möglichkeit, jenen Wasservorrat zu nutzen, um noch weiter vorzustoßen, vielleicht bis zur Mitte der Wüste, und dort einen weiteren Vorrat anzulegen. Und ein drittes kleines Heer…
Es hatte Monate gedauert. Viele Männer starben, fast ein Drittel. Sie verdursteten in der mörderischen Hitze, fielen wilden Tieren oder schlimmeren Dingen zum Opfer, den schlimmsten Gefahren in der Wüste…
Nur jemand wie Vorbis konnte so etwas planen.
Und zwar früh. Es waren bereits Menschen in der Wüste gestorben, bevor Bruder Murduck versucht hatte, die Ephebianer zu bekehren. Es wuchs schon ein Weg durch die Wüste, als die omnianische Flotte in der Bucht vor Ephebe verbrannte.
Nur jemand wie Vorbis konnte die Vergeltung vor dem Angriff planen.
I n einer knappen Stunde war alles vorbei. Die fundamentale Wahrheit bestand darin, daß die wenigen ephebianischen Wächter im Palast überhaupt keine Chance hatten.
V orbis saß mit geradem Rücken auf dem Stuhl des Tyrannen. Mitternacht rückte näher.
Mehrere Dutzend ephebianische Bürger, unter ihnen auch der Tyrann, standen vor ihm.
Er blätterte in Dokumenten, sah schließlich auf und gab sich überrascht, als merkte er erst jetzt, daß fünfzig Personen warteten. Omnianische Armbrüste zeigten auf diese.
»Ah«, sagte der Exquisitor und lächelte.
»Nun«, fuhr er fort, »es freut mich, euch mitteilen zu dürfen, daß wir jetzt auf den Friedensvertrag verzichten können. Wir brauchen ihn nicht mehr. Warum von Frieden reden, wenn es überhaupt keinen Krieg gibt? Ephebe ist nun eine Diözese von Omnien. Damit hat es sich.«
Vorbis warf ein Pergament auf den Boden.
»In einigen Tagen kommt eine Flotte. Keinen Widerstand bitte, wir halten schließlich den Palast. Der teuflische Spiegel wird abgebaut.«
Er preßte die Fingerspitzen aneinander und musterte die Ephebianer.
»Wer hat ihn gebaut?«
Der Tyrann sah auf.
»Er ist eine ephebianische Konstruktion«, antwortete er.
»Ah.« Vorbis nickte. »Demokratie. Das habe ich vergessen.« Er winkte einen Wächter herbei und ließ sich von ihm einen Sack geben. »Wer hat das hier geschrieben?« Eine Schriftrolle landete auf dem Boden. Ihr Titel lautete: De Chelonian Mobile.
Brutha stand neben dem Stuhl, und zwar auf das Geheiß des Exquisitors.
Er blickte in den Abgrund, und dort sah er sich selbst. Was um ihn herum geschah, spielte sich in fernem Licht ab, umgeben von Dunkelheit. Ungewohnte Gedanken krochen ihm erstaunlich schnell
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