Einfach göttlich
durch den Kopf.
Wußte der Zönobiarch davon? Wußte überhaupt jemand, daß zwei verschiedene Arten von Wahrheit existierten? Ahnte jemand, daß Vorbis bei diesem Krieg auf beiden Seiten kämpfte, wie ein Kind, das mit Soldaten spielte? Gab es daran etwas auszusetzen, wenn es wirklich zum Ruhm eines…
…eines Gottes geschah, der die Gestalt einer Schildkröte hatte? Eines Gottes, an den nur Brutha glaubte?
Zu wem sprach Vorbis, wenn er betete?
Durch diesen mentalen Orkan hörte Brutha die Stimme des Exquisitors: »Wenn sich der Philosoph, der das hier geschrieben hat, nicht meldet… Dann endet ihr alle auf dem Scheiterhaufen. Das ist mein Ernst.«
In der Menge gab es Bewegung, und Didaktylos’ Stimme ertönte.
»Laßt mich durch! Ihr habt ihn doch gehört… Und überhaupt: Eine solche Chance habe ich mir immer gewünscht.«
Zwei Bedienstete stolperten beiseite, und der Philosoph wankte nach vorn und hob stolz die Lampe über den Kopf.
Brutha beobachtete, wie Didaktylos vor dem Stuhl – dem Thron – verharrte und sich ganz langsam drehte, bis der imaginäre Blick seiner blinden Augen Vorbis fixierte. Dann kam er einige Schritte näher, hielt die Laterne ausgestreckt und schien den Diakon aufmerksam zu mustern.
»Hmm«, sagte er.
»Bist du der… Übeltäter?« fragte Vorbis.
»Ich denke schon. Mein Name lautet Didaktylos.«
»Bist du blind?«
»Meine Blindheit betrifft nur die Augen, Herr.«
»Und doch trägst du eine Lampe«, stellte Vorbis fest. »Vermutlich gibt es irgendeinen philosophischen Grund dafür. Vielleicht willst du mir damit mitteilen, daß du nach einem ehrlichen Mann suchst.«
»Oh, ich weiß nicht, Herr. Könntest du mir sagen, wo ich einen finden kann?«
»Für diese Frechheit sollte ich dich streng bestrafen.«
»Gewiß, Herr.«
Vorbis deutete auf die Schriftrolle.
»Solche Lügen. Ein Skandal. Du verlockst den Geist der Menschen, damit sie den Pfad der Wahrheit verlassen.« Er stieß das Pergament mit dem Fuß an. »Du wagst es, vor mir zu stehen und zu behaupten, die Welt sei flach und werde auf dem Rücken einer gewaltigen Schildkröte durchs All getragen?«
Brutha hielt den Atem an.
Und mit ihm die Weltgeschichte.
Bekenne dich, dachte der Novize. Steh zu deinen Überzeugungen. Wenn nur ein einziges Mal jemand Vorbis die Stirn bietet. Ich bin dazu nicht imstande. Aber jemand anders…
Sein Blick wanderte zu Simony, der auf der anderen Seite von Vorbis’ Stuhl stand. Der Feldwebel wirkte wie erstarrt und beobachtete Didaktylos fasziniert.
Der Philosoph richtete sich zu seiner vollen Größe auf, drehte den Kopf und schien Brutha anzusehen. Die Lampe hielt er noch immer auf Armeslänge ausgestreckt.
»Nein«, sagte er.
»Obgleich jeder ehrliche Mann weiß, daß die Welt eine Kugel ist und die runde Sonne umkreist, so wie der Mensch die zentrale Wahrheit von Om«, intonierte Vorbis. »Auch die Sterne…«
Brutha beugte sich mit klopfendem Herzen vor.
»Herr?« flüsterte er.
»Was ist?« fragte der Exquisitor scharf.
»Er hat ›nein‹ gesagt«, raunte der Novize.
»Ja, genau«, bestätigte Didaktylos.
Einige Sekunden lang saß Vorbis völlig reglos da. Dann bewegten sich andeutungsweise seine Lippen – er schien die letzten Worte noch einmal zu wiederholen.
»Du leugnest es?« fragte er.
»Soll die Welt ruhig eine Kugel sein«, sagte Didaktylos. »Habe nichts dagegen. Mit ein wenig Phantasie dürfte es möglich sein, alle Dinge daran zu befestigen, damit sie nicht herunterfallen. Und der Mond? Soll er unsere Welt oder die Sonne umkreisen? Ich schlage die Welt vor. Ist hierarchischer und bietet außerdem ein prächtiges Beispiel für uns alle.«
Brutha sah nun etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte: Verwirrung im Gesicht des Exquisitors.
»Aber du hast geschrieben… Du hast gesagt, die Welt ruhe auf dem Rücken einer riesigen Schildkröte! Du hast ihr sogar einen Namen gegeben!«
Didaktylos zuckte mit den Schultern. »Jetzt weiß ich es besser. Eine sechzehntausend Kilometer lange Schildkröte? Die durch die Leere des Alls schwimmt? Ha! Unsinn! Jetzt ist es mir eher peinlich.«
Vorbis’ Mund klappte zu. Und klappte wieder auf.
»Verhält sich so ein ephebianischer Philosoph?« erkundigte er sich.
Einmal mehr zog Didaktylos die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. »So verhält sich jeder wahre Philosoph. Neuen Ideen gegenüber muß man immer aufgeschlossen sein, und es gilt, neue Beweise als solche zu erkennen. Findest du nicht auch?
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