Einfach göttlich
dort klimperten Saiteninstrumente.
»Ein Festmahl!« höhnte Vorbis. »Der Tyrann hat uns zu einem Festmahl eingeladen! Natürlich habe ich einige von uns beauftragt, die Einladung anzunehmen. Selbst die ephebianischen Generäle sind zugegen! Sie fühlen sich sicher hinter ihrem Labyrinth, so wie eine Schildkröte unter ihrem Panzer – und die Schildkröte weiß nicht, daß sie unter ihrem Panzer gefangen ist. Vorwärts.«
Die Mauer des Labyrinths ragte vor ihnen auf. Brutha lehnte sich dagegen. Weit oben klirrte Metall – ein Wächter patrouillierte.
Das Tor stand weit offen – ganz offensichtlich hielten es die Ephebianer nicht für nötig, den Zugang des Labyrinths zu verriegeln. Ein kurzer Korridor führte zu einem kleinen Raum, in dem der erste von sechs Wegposten auf einer Bank schlief. Neben ihm brannte eine Kerze, und oben hing eine bronzene Glocke – wenn man den tödlichen Irrgarten durchqueren wollte, mußte man dort läuten. Brutha schob sich daran vorbei.
»Brutha?«
»Ja, Herr?«
»Führ mich durchs Labyrinth. Ich weiß, du bist dazu imstande.«
»Herr…«
»Ich habe dir gerade einen Befehl gegeben, Brutha«, fügte Vorbis wie beiläufig hinzu.
Er läßt mir keine Wahl, dachte der Novize. Mit einem Befehl läßt er mir keine Wahl.
»Dann setz den Fuß nur auf die Stellen, die auch ich betrete, Herr«, flüsterte er. »Und bleib dicht hinter mir.«
»Ja, Brutha.«
»Folge meinem Beispiel, wenn ich einem nicht sichtbaren Hindernis ausweiche.«
»Ja, Brutha.«
Dies wäre eine gute Gelegenheit, überlegte der Novize. Ich könnte ihn in eine der Fallen führen. Nein. Ich habe ein Gelübde abgelegt und so. Man darf nicht ungehorsam sein. Das Ende der Welt ist nahe, wenn man Befehlen nicht mehr gehorcht…
Brutha ließ sich vom Unterbewußtsein leiten. Der Weg durchs Labyrinth entrollte sich wie ein glühender Draht vor seinem inneren Auge.
… schräg nach vorn und dreieinhalb Schritte nach links, dreiundsechzig Schritte nach links, zwei Sekunden warten… – Ein stählernes Wusch in der Dunkelheit deutete darauf hin, daß ein Wächter etwas Neues erfunden und damit einen Preis gewonnen hatte –… drei Stufen nach oben…
Ich könnte einfach loslaufen, dachte Brutha. Und mich irgendwo verstecken. Vorbis käme vermutlich keine zehn Schritte weit, ohne in eine Speergrube zu fallen oder von scharfen Klingen durchbohrt zu werden. Anschließend kehre ich in meine Kammer zurück und verhalte mich so, als sei überhaupt nichts geschehen. Wer wüßte von meiner Schuld?
Ich selbst.
… neun Schritte nach vorn und einen nach rechts, neunzehn Schritte nach vorn und zwei nach links…
Vor ihnen war Licht. Es handelte sich nicht um blassen Mondschein, der manchmal durch kleine Öffnungen in der hohen Decke herabfilterte, sondern um das gelbliche Licht einer Laterne. Es zitterte über die Wände, als sich jemand näherte.
»Es kommt jemand«, hauchte Brutha. »Vermutlich einer der Führer.«
Vorbis war verschwunden.
Brutha verharrte unsicher im Durchgang, während die Entfernung zum Mann mit der Lampe immer mehr schrumpfte.
»Bist du das, Nummer Vier?« krächzte jemand.
Das Licht kam um die Ecke. Im Schein der Laterne zeigte sich ein älterer Mann, der auf Brutha zutrat und seine Lampe so hob, daß sie dem Jungen direkt ins Gesicht leuchtete.
»Wo ist Nummer Vier?« fragte er und blickte an dem Novizen vorbei.
Hinter dem Mann glitt eine Gestalt aus einem Seitengang. Für einen Sekundenbruchteil sah Brutha Vorbis’ Gesicht – es wirkte seltsam entspannt und friedlich –, als der Exquisitor den Griff des Gehstocks drehte und daran zog. Scharfes Metall glänzte im Licht der Lampe.
Unmittelbar darauf wurde es dunkel.
»Wir setzen jetzt unseren Weg fort«, sagte Vorbis.
Brutha zitterte, ging weiter und spürte kurz das weiche Fleisch eines ausgestreckten Arms unter der Sandale.
Der Abgrund, fuhr es ihm durch den Sinn. Der Abgrund befindet sich in Vorbis’ Augen. Und ich leiste ihm dort Gesellschaft.
Ich muß an die Sache mit der fundamentalen Wahrheit denken.
Im Labyrinth waren keine weiteren Wächter unterwegs. Nach nur einer Million Jahre spürte Brutha, wie ihm kühle Nachtluft entgegenwehte. Er trat durch den Ausgang, und die Sterne am dunklen Himmel begrüßten ihn.
»Gut gemacht. Erinnerst du dich an den Weg zum Tor?«
»Ja, Herr.«
Der Diakon streifte die Kapuze über.
»Führ mich dorthin.«
An den Mauern brannten einige Fackeln, doch ihr Licht genügte nicht, um die
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