Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
glaubten, Harry hätte Tom Carpenter zuerst angegriffen, würden sie dem Angeklagten das Recht auf Selbstverteidigung zugestehen. Allerdings wurde der Einsatz einer Stichwaffe normalerweise nicht akzeptiert. Da Harry aber angeblich vollkommen außer Kontrolle gewesen war, machten die Geschworenen in diesem Fall vielleicht eine Ausnahme.
Jessica dachte an die beiden jungen Frauen in der ersten Reihe und den Mann, den sie für den Sprecher hielt. Sie fragte sich, ob sie einen von ihnen hatte beeinflussen können. Hatte der Sprecher die anderen gedrängt, den Angeklagten schuldig zu sprechen oder glaubte er, dass Harry ihn bedroht hatte?
Dann hielt plötzlich der Lauftext am Bildschirmrand an und alle im Foyer schienen gleichzeitig den Atem anzuhalten. Es herrschte absolute Stille, während der Reporter auf dem Bildschirm sich immer wieder hektisch umschaute. Dann bewegte sich der Lauftext wieder. Diesmal ganz langsam und der Text war ein anderer.
»Tom Carpenter nicht schuldig.«
Alle im Foyer buhten und schrien plötzlich vor schierer Entrüstung. Jessica dachte, sie wäre die Fluchexpertin, aber einige Ausdrücke, die sie hier zu hören bekam, schockierten selbst sie. Und als Peter Hunt an Tom Carpenters Seite aus dem Gerichtsgebäude trat, machte sich die Empörung der Kollegen erst richtig Luft.
Jessica versuchte, die anderen dazu zu bringen, leise zu sein, denn der Kameramann eilte auf die beiden am Eingang des Gerichts zu. Von allen Seiten schoben sich Mikrophone ins Bild und schließlich beruhigten sich die Männer im Foyer.
Hunt strahlte noch mehr als sein Mandant. Er hatte offensichtlich darauf spekuliert, siegesbewusst vor die Kameras treten zu können, und sich ganz besondere Mühe mit seinem Äußeren gegeben. Er sah noch geschniegelter aus als sonst und hatte sogar jemanden dabei, der einen Schirm über ihn hielt. Jessica wollte eigentlich hören, was Hunt zu sagen hatte, aber als er ansetzte: »Die Gerechtigkeit hat gesiegt …«, löste sie sich aus der Menge und ging zurück in ihr Büro.
Armer Harry.
D REIUNDDREISSIG
Den Rest der Woche berichteten Zeitungen und Nachrichtensendungen kaum über etwas anderes als Tom Carpenters Freispruch und die ergebnislose Suche nach Nigel Collins. Peter Hunt kostete seinen Triumph voll aus. Er trat in den Morgennachrichten und auf beiden großen Nachrichtensendern auf und meldete sich in mindestens zwei überregionalen Zeitungen zu Wort. Außerdem war er Studiogast bei einer Anrufsendung im Radio mit dem Thema »Ist die britische Polizei inkompetent?« Als Jessica auf dem Weg zur Arbeit in die Sendung reinhörte, dachte sie nur, dass die vereinsamten Spinner, die da ihren ignoranten Unsinn kundtaten, im Ernstfall wahrscheinlich keine Sekunde zögern würden, sich an die Polizei zu wenden. Der überhebliche Ton des Reporters – er hätte auch gleich fragen können: »Ist die britische Polizei ein Haufen unfähiger Schwachköpfe?« – trieb sie zur Weißglut. Außerdem gab’s da noch eine Anruferin namens »Sue aus Bromsgrove«. Falls sie mal einen Notruf von der bekommen würde, würde sie sie mit Freuden ignorieren.
»Wer hier inkompetent ist, werden wir ja noch sehen, du alte Hexe«, sagte Jessica zum Radio.
Zu allem Überfluss hatte Tom Carpenter einer Boulevardzeitung seine Story verkauft. »Glasattacke – Polizist drehte durch« lautete die Überschrift seiner Lügengeschichte. Harry wurde darin als zugetankter, korrupter Irrer dargestellt. Seit dem Urteilsspruch hatte sie ein halbes Dutzend Mal versucht, Harry zu erreichen, aber sein Telefon war abgestellt.
Die ganze Woche war so mies gelaufen. Obwohl sie den Fall an die Serious Crime Division übergeben hatten, bekamen sie immer noch von allen Seiten eins reingewürgt. Am Tag, nachdem die SCD übernommen hatte, musste Jessica einen der Beamten in den Fall einarbeiten und ihre Aufzeichnungen und alle Computerdateien mit ihm durchgehen. Der arrogante Schnösel machte die ganzen zwei Stunden lang ein Gesicht, als wollte er sagen: »Wir ziehen für euch den Karren aus dem Dreck.« Am liebsten hätte sie ihm den überheblichen Ausdruck aus dem Gesicht gewischt.
Jessica arbeitete mittlerweile an einem neuen Fall. Jemand hatte einen Schnapsladen überfallen, den Besitzer mit einem Klauenhammer ins Gesicht geschlagen und die Wocheneinnahmen aus dem Safe mitgehen lassen. Bei ihrem Gespräch mit dem vollkommen aufgelösten Ladenbesitzer hatte er immer wieder gesagt, er sei froh, dass seine Frau nicht da
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