Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
ist erst vor ein paar Monaten zu Hause ausgezogen. Sie hatte eine Stelle in einem Laden gefunden, wo sie Handtaschen und so’n Zeug verkauft. Ich hätte ihr ja gern einen besseren Job besorgt, aber sie wollte es ohne Hilfe schaffen. Eine Zeitlang dachte ich, Claire würde sie mit herunterziehen!«
Warum sagte sie nicht »Mum« oder »meine Mutter«?
»Claire?«, sagte Jessica erstaunt.
»Wenn jemand sich nicht wie eine Mutter verhält, kann man sie auch nicht so nennen, oder?«
Jessica nickte und versuchte, einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu wahren. »Also lebte Ihre Mutter allein?«
»Ja.«
»Und sie hatte keinen Freund?«
Emily lachte freudlos. »Einen Freund? Jede Nacht einen anderen natürlich.«
»Und was ist mit Ihrem Vater?«
»Keine Ahnung. Er ist schon vor Jahren abgehauen.«
»Wie lang ist das her?«
»Acht oder neun Jahre vielleicht. Kim war damals noch keine zehn.«
»Wissen Sie, warum er Ihre Mutter verlassen hat?«
»Nein.«
»Haben Sie denn nie darüber geredet?«
Emily schüttelte den Kopf. »Claire war damals ständig betrunken. Man konnte nie richtig mit ihr reden.«
»Haben Sie Ihren Vater gesehen, seit er weggegangen ist?«
»Nein.«
»Wollten Sie nicht oder wollte er nicht?«
»Damit hat es nichts zu tun. Ich wüsste nicht einmal, wo ich ihn suchen sollte. Er war ganz plötzlich nicht mehr da. Ich war damals erst fünfzehn oder so. Und Claire hat uns die ersten zwei Wochen erzählt, er wäre auf Geschäftsreise.«
»Wie lang ging Ihre Mutter schon dieser … Tätigkeit nach?«
»Noch nicht ewig. Ob Sie’s glauben oder nicht, unsere Kindheit war gar nicht so schlimm. Ein ganz nettes Haus, Sommerferien am Meer und so. Aber als Dad abgehauen ist, ging es mit Claire bergab. Ein paar Jahre später sind wir in diese Bruchbude gezogen. Da war sowieso kein Platz für mich, also bin ich direkt ausgezogen.«
Jessica schrieb sich den Namen des Vaters auf. Falls sie ihn ausfindig machen konnten, würde sie ihn überprüfen. Manche Männer, die ihre Familie verließen, lösten sich anscheinend einfach in Luft auf. Andere taten sich mit einer neuen Frau zusammen und zahlten Alimente. Aber da Claire ihren Vater so lang nicht gesehen hatte, gehörte er wohl zur ersten Kategorie. Vielleicht gab es wegen des Unterhalts für die Kinder eine Akte beim Jugendamt über ihn, aber Jessica hatte nicht viel Hoffnung. Ihn zu finden würde nicht einfach, und falls er seinen Namen geändert hatte, fast unmöglich.
Jessica zögerte und überlegte sich die nächste Frage. Die Spuren am Tatort, die Halswunden des Opfers und die verriegelte Wohnung ließen natürlich sofort vermuten, dass dieses Verbrechen mit den beiden früheren Morden in Zusammenhang stand. Aber bei den anderen beiden Opfern handelte es sich um Personen, die man als »ganz normale Leute« bezeichnen könnte. Hier lag der Fall für Jessica anders. Nicht dass sie glaubte, ein Leben sei mehr oder weniger wert als ein anderes. Aber eine drogensüchtige Prostituierte war besonders gefährdet. Ein Gewaltverbrecher würde sie als wehrloses Opfer betrachten. Gab es möglicherweise trotzdem eine Verbindung zwischen Claire Hogan, Yvonne Christensen und Martin Prince?
Cole hatte die Akten der beiden anderen Fälle mitgebracht. Die, in denen Ryan herumgeschnüffelt hatte. Sie holte ein Foto der lebenden Yvonne Christensen hervor und reichte es Emily. »Kennen Sie diese Frau?«
Emily verengte die Augen und betrachtete das Foto. »Sie kommt mir bekannt vor.« Jessicas Herz machte einen kleinen Sprung, aber ihre Hoffnung wurde sofort wieder enttäuscht. »War sie nicht im Fernsehen und in der Zeitung?«
»Ja.«
»Sie ist auch umgebracht worden. Von diesem ›Houdini-Würger‹.«
Jessica hasste diesen Spitznamen immer noch, aber jetzt war nicht die Zeit, darüber zu streiten. »Ja.«
»Glauben Sie, dass er Claire auch umgebracht hat?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich dachte nur … als der Beamte gesagt hat …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Im Grunde habe ich schon lang mit so was gerechnet. Bei ihrem Lebenswandel …«
Jessica ging nicht weiter darauf ein und reichte ihr ein Foto von Martin Prince. Emily erkannte auch sein Gesicht, aber wieder nur aus den Medien. »Können Sie sich vorstellen, dass jemand Ihrer Mutter etwas antun wollte?«
»Ihre Kunden …? Keine Ahnung, niemand Bestimmtes. Kim war ihr viel näher. Sie besucht sie zweimal die Woche.«
»Haben Sie einen Schlüssel für die Wohnung, Emily?«
Emily
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