Einundzwanzigster Juli
eine klirrende Kälte, ich will tief Luft holen ...
... und fürchte einen Augenblick, den Gestank aus Dachau tatsächlich an mir zu tragen. Erst dann erkenne ich, dass auch Matrei völlig zerbombt ist. Der süßliche Leichengeruch kommt aus verschütteten Kellerlöchern.
Dennoch wohnen Menschen hier. Der Wirt einer Gastwirtschaft bringt uns heißen Tee, bezahlt haben will er ihn nicht. Weiter unten im Tal sehe ich, während wir stundenlang warten, ein Licht nach dem anderen verlöschen.
Der Bader kocht vor Zorn, als wir auf Passhöhe, direkt an der italienischen Grenze, endlich wieder zum Konvoi stoßen. Die Ausweglosigkeit seiner Lage muss auch ihm längst klar geworden sein. Aus Richtung Italien dröhnen zurückflutende deutsche Truppen in Lastwagen und Militärfahrzeugen über den Pass und rollen fluchtartig die Straße herab, die wir uns gerade hinaufgearbeitet haben; in unsere Richtung schleppt sich eine zerlumpte Schar, die dieFäuste gegen unseren Bus schüttelt. Hunderte und Aberhunderte italienischer Fremdarbeiter sind auf dem Weg zurück nach Hause.
Der Krieg ist vorbei! Wenn sie nach Hause gehen, ist der Krieg vorbei!
Atemlos drehe ich mich zum Sitz hinter mir. »Ist der Krieg vorbei, Onkel Teddy?«
»Der Krieg ist vorbei, Fritzi.«
»Aber warum ...«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und starre wieder aus dem Fenster. Vorbei!, denke ich fassungslos. Vorbei!
»Was die SS noch von uns will, meinst du?«, fragt mein Onkel. »Nein. Ich weiß, dass wir das noch nicht wissen können. Ich meine nur, es ... ich dachte, es würde sich anders ...«
Meine Kehle schnürt sich zu. Vor uns dreht sich Tante Sofie um. »Anders anfühlen?«, fragt sie leise. »Das dachte ich auch.«
Als es wieder losgeht, setzt sich unser Bus an die Spitze und wir können beobachten, was der Mann auf dem Motorrad zu tun hat: Nähern wir uns einer Kreuzung, die zu einem Dorf abzweigt, steht er schon da und schüttelt den Kopf.
Bader schäumt, Stiller schweigt. Dass sie im ersten Bus, also bei uns mitfahren, ist unser Pech; dass sie wieder einmal kein Quartier finden, offensichtlich. Der Morgen graut, es beginnt zu regnen und wir kurven kreuz und quer durchs Pustertal. Immer wieder sehen wir versprengte Truppenteile, Verwundete zu Fuß und auf Wagen, Transportfahrzeuge mit Militärgerät. Sie kommen uns entgegen oder sind auf unserer Straßenseite unterwegs; niemand scheint zu wissen, ob es vor oder zurück gehen soll. Auch bei uns im Bus gibt es nur eine klare Richtung: die der Nadel, die den Stand der Tankfüllung anzeigt.
Beratungspause. Bader und Stiller stehen auf einer Wiese und brüllen sich an. Eine Abordnung der Engländer steigt aus ihrem Bus, offenbar ungehindert von den Wachen, marschiert zu denbei den hinüber und protestiert aufs Schärfste dagegen, dass sie als Militärangehörige einer derart kopflosen Organisation ausgesetzt sind. Energisch verlangen sie eine Pause und ein Frühstück, und zwar ein ordentliches!
»Na schön«, gibt der Lächler nach, »vertreten Sie sich ein wenig die Füße, aber bleiben Sie bei den Bussen. Wir werden sehen, was wir organisieren können.«
Während der größere Teil der Wachmannschaft sich mit einem Bus auf den Weg ins nächste Dorf macht, bleiben wir auf der Wiese am Rande der Landstraße, neben Eisenbahnschienen und nicht weit von einem braunen Bahnwärterhäuschen. Rechts und links liegen Felder und Viehweiden, geradeaus steht in einiger Entfernung ein Ortsschild und von oben regnet es gnadenlos auf uns herab.
Wir waschen uns notdürftig an einem Bach. Die meisten gehen müde hin und her, um warm zu bleiben; zurück in den Bus möchte keiner. »Sieh mal«, stupst mich Julius plötzlich in die Seite, »was macht denn der General?«
Der General mit dem schönen Namen Garibaldi schlendert, die Arme auf dem Rücken verschränkt, die Gleise entlang und schaut so intensiv zu Boden, als hoffte er im Schotter ein Enzian zu finden. Der Bahnwärterstation kommt er dabei näher und näher ... bis von drinnen plötzlich die Tür geöffnet wird und unser General schneller ins Innere des Häuschens schlüpft, als wir blinzeln können!
Minuten später verlassen zwei Männer die Station, ziehen die Kapuzen ihrer Regenmäntel tief in die Stirn und entfernen sich in Richtung der Berge.
»Er hat sich verkleidet!« Mir steht der Mund offen. »Der General ist abgehauen!«
Aber da öffnet sich erneut die Tür des Bahnwärterhäuschens, der General tritt ins Freie und schlendert in aller
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