Einundzwanzigster Juli
halb verhungert! Esst’s lieber nur ein Knödel und nehmt’s den Rest mit!«
Die Taschen voller Hefeknödel, spazieren wir schließlich zurück zum Hotel. Die Dolomiten glitzern in der Sonne, sie scheinen uns zuzulächeln; klare, reine Luft durchdringt meine Lungen. Soll ich mir jetzt noch vorstellen müssen, irgendjemand könnte mir das Leben nehmen ...?
Bischof Piguet, einer der gefangenen Geistlichen, zelebriert am Nachmittag eine Dankmesse, an der fast alle teilnehmen – Katholiken, Protestanten, Orthodoxe. Als wir hinaus vor die Dorfkirche treten, fahren Lastwagen durch den Ort.
Deutsche Soldaten drängen sich auf der Ladefläche. »Nach Hause! Der Krieg ist vorbei!« In Caserta, rufen sie uns im Vorbeifahren zu, hätten die deutschen Truppen kapituliert.
Zu meiner Überraschung machen sie nicht den Eindruck von Besiegten. Ob auch sie sich als Überlebende fühlen?
»Haltet euch zurück! Nur nicht provozieren!«, schärft Onkel Teddy uns ein. »Unsere gesamte Wachmannschaft ist noch im Dorf, und der Verlust von Macht geht allzu oft mit neuer Gewalt einher.«
Im Hotel, wo die Älteren Zimmer bekommen haben und wir Übrigen auf Matratzen im Flur campieren, beschleicht mich, nachdem wir die Türen von innen verriegelt und Tische und Stühle davor gerückt haben, ein Gefühl von Mausefalle. Die ganze zweite Nacht hören wir Wagen vorbeifahren, das unheilvolle Donnern schwerer Stiefelschritte und immer wieder laute, bedrohliche Stimmen. Später erfahren wir, dass Oberst Bonin das Ehepaar Schuschnigg mit Pistolengewalt vor einem betrunkenen SS-Mann verteidigen musste, der plötzlich in ihre Unterkunft platzte, mit seiner Waffe fuchtelte und brüllte, hier habe immer noch er das Sagen.
Wir erfahren auch, dass ein unbekannter Hauptmann der Wehrmacht gesehen worden sei, wie er mit dem Lächler redete und danach sehr schnell wieder abfuhr. Sollte das der versprochene Schutz gewesen sein ...? Niemand von uns tut in dieser Nacht ein Auge zu. Wann immer ich mich auf meiner Matratze aufrichte, kann ich Max oder Onkel Teddy sehen, die, auf ihr Gewehr gestützt, am Treppenabsatz auf einem Stuhl sitzen und abwechselnd Wache schieben.
Gegen Morgen muss ich aber doch eingeschlafen sein, denn als ich aufwache, sind sie schon da: eine Kompanie in fast voller Kampfstärke, rund hundertzwanzig Soldaten, die aus Kübelwagen springen und das Hauptquartier der SS auf dem Marktplatz umstellen. Bader und der Lächler müssen noch einen Ausbruchsversuch zu zweit in einem Fahrzeug gestartet haben, wurden aber unverzüglich aufgehalten und unter Waffengewalt zur Rückkehr ins Gebäude gezwungen.
»Wenn Ihre Leute von der Waffe Gebrauch machen, schießt die SS auch!«, brüllten sie den neuen Kommandanten, Hauptmann von Alvensleben, an.
Aber der lässt sich nicht beeindrucken. Die Übergabe der Ehrenhäftlinge an die Wehrmacht habe korrekt zu verlaufen, verlangt er. Anschließend stehe der SS selbstverständlich frei, Niederdorf sofort zu verlassen.
Zwei Stunden später sehen wir sie abfahren, Bader mit wildem Blick, Stiller ganz ohne ein Lächeln. Ob wir sie wirklich zum letzten Mal sehen?
Auch unser neuer Kommandant scheint sich da nicht sicher zu sein. Kaum ist die SS verschwunden, ergeht die Aufforderung, unser Gepäck zum Weitertransport ins Gemeindehaus zu bringen. Hauptmann von Alvensleben hat eine geeignetere Unterkunft für uns gefunden, ein Hotel auf 1500 Meter Höhe, das von der Wehrmacht besser zu überwachen sei als ein kleines Dorf im Tal.
Julius meint, ich sollte endlich anfangen, es zu glauben. Er verliert allmählich die Geduld mit mir, selbst wenn er zugeben muss, dass es nicht ganz leicht ist, sich an eine solche Kulisse zu gewöhnen. An eine solche Stille! Der Pragser Wildsee ist smaragdgrün und sein Wasser, unbeweglich in der klirrenden Kälte, spiegelt eine Zauberlandschaft: schneebedeckte Berge, Wolken und Kiefernwälder, die bis ans Ufer reichen. Nur wenige Meter vom See entfernt schmiegt sich ein großes, herrschaftliches Haus an einen Berghang: das Hotel Lago di Braies.
Wenn Julius vor die Hoteltür tritt, legt er den Kopf in den Nacken und stößt ein helles »Holli-ho!« aus, das die Berge aufnehmen und weiterjubeln. Auch er muss sich vergewissern, dass wir hier sind. Aber ich halte lieber den Mund. Wenn ich in die Berge riefe, käme als Echo das Heulen der Sirenen zurück, das Krachen von Bomben und Gewehrsalven und das Klirren eines Schlüsselbundes. Die Stimmen von Bader und Lächler, Raffold
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