Einundzwanzigster Juli
Berlin«, gebe ich mit nur ganz leichtem Beben in der Stimme zur Antwort. »Ich habe gesehen, wie es ist, wenn Leute kein Dach überm Kopf haben. Sie tun mir alle leid.«
Obersturmführer Klotz runzelt die Stirn. Sein Gesicht rückt ein klein wenig von meinem ab, er wirkt überrascht. Dann sagt er: »Sie haben es nicht verdient.«
»Nein«, bestätige ich und füge rasch hinzu: »Herr Obersturmführer.«
In sein Schweigen hinein höre ich das Geräusch schneller Schritte; jemand rennt in großer Hast den Wanderweg hinunter. Obersturmführer Klotz hört es auch und tritt zurück, glättet die Uniform über seinem vorspringenden Bauch. »Du bist doch ein aufgewecktes Mädchen«, sagt er in verändertem Ton. »Dir muss doch klar sein, was dein Vater dir angetan hat.«
Ich mache den Mund auf, aber es kommt kein Wort heraus. Obersturmführer Klotz wirft Max einen harten Blick zu, schüttelt noch einmal den Kopf und geht zurück ins Haus.
Außer Atem packt Max meine Schultern. »Hat er dir etwas getan?«
Erschrocken sehe ich in sein entsetztes Gesicht und fange mit einigen Minuten Verspätung nun doch an zu zittern. »Ich g-gglaube, ich habe das R-R-Richtige gesagt«, stammle ich und lasse mich widerstandslos in die Arme nehmen, weil mir plötzlich die Knie gummiweich werden und weil ...
Vater. Weil ich plötzlich wieder weiß, wie es gewesen sein muss. Weil ich plötzlich so furchtbar weinen muss, und es hat nicht das Geringste mit Obersturmführer Klotz zu tun.
Wenn ich die Augen schließe, kann ich mir vorstellen, ich sei wieder zwölf. Ich wüsste nichts von Piotr, meinem Vater, meinen Onkeln, ich wüsste noch nicht einmal von Fabian. Ich mache Ferien bei Verwandten, die sich blitzschnell und völlig unerwartet in mein Herz geschlichen haben, wir wandern durch den Wald, freuen uns auf das bevorstehende Picknick und Max hält einen Vortrag. Ich möchte so fest die Augen schließen, dass ich aufpassen muss, nicht gegen Bäume zu rennen.
Das Entscheidende, höre ich Max sagen, sei, dass seine Brüder etwas unternommen haben und er nicht. Der Generalstab habe Mitverantwortung an der Katastrophe, die Deutschland über die Welt gebracht habe, und aus dem Generalstab heraus sei der Versuch gekommen, die Katastrophe zu beenden. »Das ist großartig«, meint er. »Ich habe immer nur geredet.«
»Was hättest du denn tun können – ganz allein?«
»Du hast Recht. Es muss unendlich mühsam gewesen sein, Mitstreiter zu finden. Einen Plan zu entwickeln, sich überhaupt klar zu werden, ob man das Richtige tut ... natürlich konnten und mussten sie sich gegenseitig bestärken. Aber weißt du, ich glaube, jeder von denen, die dabei waren, war erst einmal und auch zwischendurch immer wieder ganz allein.«
Das ist das Einmalige an Max und Lexi: Sie reden mit mir, als wäre ich nicht nur ein Kind. Sie nehmen einfach an, dass ich von dem, was gesprochen wird, das Wesentliche schon verstehen werde, und genau so ist es dann auch. Die Dinge ordnen sich, und alles wird ganz schlicht und klar.
Ich spreche aus, was mir seit vielen Wochen durch den Kopf geht: »Solange ich denken kann, sagt Vater, Hitler sei gut für Deutschland und der Krieg unvermeidlich. Jetzt wendet er sich plötzlich dagegen!«
»Was würdest du denn tun, wenn du merkst, dass du den falschen Weg eingeschlagen hast?«, gibt Max zurück, und wieder kann ich nur staunen, wie einfach es ist.
Ich kehre um.
»Aber was«, gebe ich zu bedenken, »wenn es schon zu spät ist? Wenn man das, was man angerichtet hat, nicht mehr ändern kann?«
»Trotzdem umdrehen«, sagt er. »Bloß nicht auf dem falschen Weg bleiben! Dadurch wird er ja nicht richtiger, im Gegenteil. Er gabelt und gabelt und gabelt sich, und am Ende bist du hoffnungslos verirrt und weißt weder vor noch zurück.«
»In Oschgau ...«, entfährt es mir und sofort würde ich mir am liebsten die Hand vor den Mund schlagen. »Ach ja, dein Exil«, erinnert sich Max. »Was war denn dort?«
»Sie haben die Fremdarbeiter nicht gut behandelt«, bringe ich mit Mühe heraus.
»Sehr gut, Fritzi«, lobt mein Onkel, der Professor, »genau darüber reden wir. Deutschland ist in den Händen von Verbrechern. Verschleppungen, Massenmorde, Gräueltaten an Zivilisten, an Juden, an Kriegsgefangenen ... es gibt genügend Dinge, die deinen Vater und meine Brüder dazu gebracht haben können, ihren Standpunkt zu ändern. Zwar konnten sie nichts zurücknehmen von dem, was passiert ist, aber sie wollten auch nicht mehr
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