Einzelstücke - Möller, M: Einzelstücke
klar?«
Ich blicke in die Augen von Moritz. Seine braune Iris durchbohrt mich fast, und seine Lippen sind auf einmal so nah, viel zu nah.
»Klar. Klar, alles klar«, winde ich mich aus der beidseitig unerträglich unangenehmen Situation. Kaum stehe ich wieder aus eigener Kraft auf dieser Erde, entdecke ich einen Hauch von Verachtung für mich, der über Moritz’ dunkle Augen wandert. In nüchternem Zustand hätte ich dieser Beobachtung ganz sicher mehr Bedeutung geschenkt und wäre sofort, ohne ein weiteres Wort, an Moritz vorbeimarschiert. Der Alkohol in mir plaudert jedoch weiter.
»Ich wollte das Interview bei Herrn Bender abgeben. Aber weißt du«, sage ich, »ich habe es vom Diktiergerät abgetippt, und ich war so zufrieden damit, aber als das Interview mit Susan zu Ende war, hörte ich das, was zuvor von mir aufgenommen wurde, und das war wirklich …«, ich mache eine Pause, werde jedoch durch den plötzlichen Glanz in Moritz’ Augen ermutigt, mich weiter zu erklären, »… es war wirklich … grausam«, sage ich, wobei ich das Wort »grausam« auch noch so betone, als befänden wir uns in einem spukigen Gruselfilm. »Also bin ich vom Schreibtisch aufgesprungen, ohne das Dokument zu speichern, und habe das Diktiergerät vernichtet.«
»Vernichtet?«
»Ich habe es in der Mikrowelle explodieren lassen.«
Moritz sieht mich an, sagt kein Wort, verzieht keine Miene und verschränkt einfach nur die Arme vor der Brust, während ich mich drei Dinge frage: Warum erzähle ich das, warum erzähle ich das, und warum erzähle ich das?
»Wie dem auch sei, ich musste es dann noch mal abtippen, aber ich konnte mich nicht mehr an alles erinnern. An ihr Lieblingsgericht zum Beispiel und wo sie am liebsten Urlaub macht und über welchen Markt sie dann schlendert, um frischen Koriander zu kaufen. Und ihr Witz über die Ehe und woher das Bett ist, in dem sie schläft.«
Ich erzähle und erzähle, während Moritz einfach nur dasteht, mitverschränkten Armen und leerem Blick. Ignoriert er mich? Halte ich ihn irgendwie auf? Obwohl, Moritz ist wohl eher der Typ, der einen bescheuert stehen lässt, wenn ihn etwas mehr interessiert. Habe ich schon erwähnt? Ich finde ihn äußerst, ÄUSSERST, unsympathisch. Und irgendwie auch unattraktiv. Dieses Ich-bin-Künstler-und-total-egozentrisch-und-deswegen-trage-ich-Hüte-Ding kann ich gar nicht leiden. Und eine männliche Carla Bruni ist er nun auch nicht gerade: hohe Wangenknochen, zierliche Konturen, volle, symmetrische Lippen, schmale Nase, strahlend weiße Zähne, dunkel glänzende Augen und frisch shamponiertes, haselnussbraunes Haar unter der Hutkrempe.
Obwohl? Wenn ich ihn mir genauer betrachte, ist er besser als die männliche Carla.
»Warum guckst du mich so an?«
Außerdem riecht er nach Waldboden.
»Ich muss jetzt zu Herrn Bender.«
»Ist außer Haus«, antwortet Moritz rasch und sieht sich dabei um.
Ich verenge meinen Blick. Wieso sollte ich Moritz mehr als meiner Auffassungsgabe glauben? Weil du betrunken bist, höre ich Tim in meinem Kopf zu mir sagen.
»Da drüben ist Herrn Benders Fach. Leg dein Interview da ab. Ich muss jetzt los.«
Kurz überdenke ich meine Möglichkeit, mich an Moritz vorbeizuschieben, um nach Jürgen Bender im hinteren Teil des Büros zu suchen, verwerfe diesen Gedanken aufgrund der bereits angehäuften Peinlichkeiten wieder, lege die Mappe mit dem Interview in Herrn Benders Fach und verlasse das Büro, ohne dass Moritz sich auch nur einen Zentimeter bewegt hätte.
*
»Und wie peinlich war’s?«
»Fahr einfach.«
»Ich hab doch gesagt, lass mich mit dem Chefredakteur reden.«
»Hm. Moment! Halt an. Halt an.«
Mir war, als hätte ich hinter den tiefen Scheiben des Büros Herrn Bender gesehen. Tim ignoriert jedoch meinen Einwand. Die Sonne bricht sich im Glas der Bürofenster und lässt die Geschehnisse im MeMa hinter einem tiefen Orange verschwinden.
*
In dieser Nacht lässt mich ein Gedanke nicht schlafen. Wollte Moritz verhindern, dass ich auf Herrn Bender treffe? Ich starre an die dunkle Zimmerdecke, über die sich ein schmales helles Band des Mondscheinlichts zieht. Es war offensichtlich, er mochte mich nicht. Schön. Gut. Ich mochte ihn auch nicht. Irgendwie hat das doch schon wieder etwas Verbindendes. Mit den Füßen streife ich die Decke von mir. Ich bin viel zu wach, um hier zu liegen. Und viel zu müde, um aufzustehen. Ein grundsätzlich dilemmatöser Zustand! Also drehe ich mich erst mal zur Seite. Ließ Moritz
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