Eisblume
nördlich bis ins Aichtal erstreckte. Von seinem Haus am Entringer Ortsrand musste Brander nur einen stetig steigenden Feldweg hinauflaufen und schon befand er sich inmitten eines herrlichen Waldgebietes. Fichten, Kiefern, Eichen, Buchen und fröhliches Vogelgezwitscher. Er erinnerte sich daran, wie er im Spätsommer mit einem regelmäßigen Lauftraining begonnen hatte, und für einen kurzen Augenblick sehnte er sich nach Frühling und einer erholsamen Joggingrunde auf den endlosen Wegen.
»Herr Lüdke«, Brander richtete sich auf, stützte die Unterarme auf den Schreibtisch und verschränkte die Finger. »Sie kennen Nael Vockerodt?« Brander beobachtete den Studenten, dessen Sorglosigkeit augenblicklich verpuffte. Er versuchte, weiterhin einen entspannten Eindruck zu machen, dennoch nahm Brander sofort die kleinen Regungen in seinem Gesicht wahr. Auch dass sich die Finger verkrampften, war ihm nicht entgangen.
»Ja«, Lüdke nickte leicht mit dem Kopf. »Den kenn ich.«
»Sie wissen, dass er tot ist?«
»Ich hab’s gehört, ja.«
»Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Ein Kommilitone. So was spricht sich schnell rum.«
Brander nickte. »Wann haben Sie Herrn Vockerodt zuletzt gesehen?«
Lüdke zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Irgendwann, in der Mensa. Da habe ich ihn ein paarmal gesehen.«
»Und sonst?«
»Wie – und sonst?«
»Haben Sie sich mal privat mit ihm getroffen?«
»Privat? Der Typ hat mir meine Freundin ausgespannt. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich mit dem abends ein Bierchen trinken gehe?«
»Das heißt also nein. Sie hatten mal eine Meinungsverschiedenheit mit ihm in der Mensa?«
Lüdke holte tief Luft, bohrte seine Zungenspitze in die Innenseite seiner Wange. Er sah zur Decke, dann wieder zu Brander. »Ja, hatte ich. Mir ist einfach der Hut hochgegangen. Der kommt hierher mit seinem selbstgefälligen Grinsen und groovigen Gang, zeckt sich bei Jasmin ein und gräbt nebenbei sämtliche Mädels an. Das hat Jasmin nicht verdient! Ich hab ihm gesagt, dass er ein Arschloch ist und dass er wieder in seine Heimat zurückgehen soll. Mann, die haben da doch genug Mädels. Muss er mir meine Freundin ausspannen?« Er hob beide Hände und ließ sie wieder in den Schoß fallen. »Warum fragen Sie mich das?«
»Sie mögen Jasmin Risch noch sehr?«
Mike Lüdke sagte nichts, aber die Antwort stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Herr Lüdke, wir versuchen, die letzten Stunden von Herrn Vockerodt zu rekonstruieren, und wir wissen, dass er Streit mit jemanden hatte, bevor er …«
»Was? Das glaub ich ja nicht! Das ist nicht Ihr Ernst!« Lüdke hob erneut beide Hände, die Augen schreckgeweitet auf Brander gerichtet. »Das … das können Sie mir jetzt nicht anhängen! Sie meinen doch nicht … oh nein … das … Ich hab dem Kerl nie etwas getan!«
»Jetzt mal ganz langsam, Herr Lüdke«, versuchte Brander den jungen Mann zu beruhigen. »Niemand unterstellt Ihnen irgendetwas.«
»Wann … wann ist es passiert?«, fragte er hastig.
»Dienstagnacht.«
»Ich … Dienstag …« Lüdke überlegte kurz. »Da war ich abends in Reutlingen bei einem Freund. Er heißt Marcus Armbruster. Ich kann Ihnen die Telefonnummer geben. Ich bin irgendwann zwischen zehn und elf nach Hause gefahren. Es hat tierisch geschneit, das weiß ich noch. Ich glaube, so gegen halb zwölf war ich zu Hause.«
»Sie leben allein?«
»Ja.«
»Keine neue Freundin?«
»Nein.« Er wurde wieder ruhiger, sank ein Stückchen in sich zusammen. »Nachdem das mit Jasmin passiert war, bin ich ausgezogen. Ist nur eine kleine Studentenbude, aber das reicht mir. Ich wollte nicht in eine WG . Ich muss erst einmal ein bisschen allein sein. Das war alles so eine Scheiße.«
Lüdke wandte den Kopf zum Fenster. »Jasmin war plötzlich so komisch, als sie in Kapstadt war. Da war ich schon misstrauisch. Aber dann kam sie zurück, und es war eigentlich alles wie immer. Dachte ich jedenfalls. Aber sie hat ständig mit diesem Nael gechattet und gemailt. Und dann, vor einem halben Jahr, sagt sie mir, dass es vorbei ist mit uns. Sie hätte sich in Nael verknallt, und er käme nach Deutschland und solle bei ihr wohnen. Das hat mir echt den Boden unter den Füßen weggezogen.« Er atmete tief durch. »Klar war ich sauer auf den Typen. Und ich hätte ihm auch liebend gern mal richtig eine reingehauen, das gebe ich ja zu. Aber ich hab ihm echt kein Haar gekrümmt. Schon allein wegen Jasmin nicht.«
Brander betrachtete den jungen Mann einen Moment
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