Eisblume
Nürnberg aufgegriffen worden, als sie versuchte, ohne Eintrittskarte auf das Festivalgelände zu gelangen. Sie besuchte unregelmäßig die Realschule, wurde von der Mutter als jähzornig und aufbrausend beschrieben. Bei der Kälte würde das Mädchen vermutlich in ein paar Tagen wieder kleinlaut zu Hause auflaufen.
Brander überlegte, die Akte einfach erst einmal zur Seite zu legen. Er hatte ohnehin zu wenig Leute, musste er jetzt auch noch zwei Beamte abstellen, die sich um einen rebellischen Teenager kümmerten? Doch sein Gewissen legte sofort Protest ein: Wenn das Mädchen nun nicht einfach nur von zu Hause abgehauen ist? Warum reichen die Kollegen von der Schutzpolizei diese Sache so schnell an dich weiter? Die Antwort war simpel: Weil sie sowieso chronisch unterbesetzt waren und zurzeit, genauso wie die Kripo, mit zusätzlichen krankheitsbedingten Ausfällen durch die aktuelle Grippewelle zu kämpfen hatten.
Brander nahm die Akte und ging damit zu Hendrik Marquardt.
»Hey, Andi, ich hab gerade mit Marcus Armbruster gesprochen«, begrüßte Hendrik ihn.
Brander erinnerte sich, dass Peppi den Studenten am Vortag nicht persönlich erreicht und auf dem Anrufbeantworter um Rückruf gebeten hatte. »Und?« Er trat an Hendriks Schreibtisch, lehnte sich mit dem Gesäß gegen die Tischkante.
»Mike Lüdke ist Dienstagabend gegen dreiundzwanzig Uhr aus Reutlingen weggefahren.«
»Das heißt, wenn er langsam gefahren ist – was durch die Witterungsbedingungen sehr wahrscheinlich ist – könnte er gegen halb zwölf am Ortseingang Tübingen gewesen sein. Der Vorfall hat sich gegen Mitternacht ereignet.«
Hendrik nickte.
Brander verzog das Gesicht. Die Vorstellung, dass der junge Sportstudent seinen Konkurrenten getötet hatte, gefiel ihm nicht. Auch, wenn er es nicht absichtlich getan hatte.
Er erinnerte sich an den Grund seines Kommens und hob die Akte, die er in der Hand hielt. »Wir haben hier einen Vermisstenfall. Ein vierzehnjähriges Mädchen ist anscheinend seit Mittwoch verschwunden.«
»Was heißt anscheinend?«
»Ist ‘ne Streunerin. Nathalie Böhme.«
»Wir haben ja auch sonst nichts Besseres zu tun, als hinter pubertären Gören herzurennen.«
Brander zuckte entschuldigend die Achseln und legte die Unterlagen auf Hendriks Tisch. »Schau es dir einfach mal an, sprich mit den Eltern und ihren Freundinnen. Mach dir ein Bild von der Geschichte, und dann sehen wir weiter.«
»Okay.« Er schlug die Akte auf. »Oh. Wie kann so ein hübsches Mädchen so böse gucken?«
»Du findest, dass sie hübsch aussieht?«
»Guck dir ihre Augen an. Blau wie die Südsee.«
Blau wie die Südsee – das war typisch Hendrik. Brander betrachtete das Bild. »Mich erinnern sie eher an einen Eisblock.«
»Das ist der Mund, die zusammengepressten Lippen, die angespannte Kiefermuskulatur. Wenn sie lächelt, ist sie sicherlich ein kleiner Engel.«
Brander sah Hendrik erstaunt an, der lehnte sich zufrieden zurück. »Bin ich ein Frauenkenner oder bin ich es nicht?«
»Du? Du bist ein Schürzenjäger.«
»Nein, die Zeiten sind vorbei. Aber die Gabe, im Gesicht einer Frau zu lesen, die habe ich immer noch. Apropos Frauen. Ich habe Anne versprochen, morgen Nachmittag mit ihr und Louis zur chocol ART zu gehen. Denkst du, das ist drin? Vielleicht entdecken wir ja Klein-Nathalie beim Schokoladendiebstahl«, tarnte er sein privates Anliegen mit einem dienstlichen Vorwand.
Brander dachte kurz nach. In Anbetracht dessen, dass sie am Sonntag sicherlich auch arbeiten müssten, sollten Hendrik zwei Stunden mit seiner Familie am Samstag gegönnt sein. Er nickte.
Hendrik lächelte erleichtert. »Habt ihr vielleicht Lust mitzukommen?«
»Ich werde Cecilia fragen.«
Brander hatte den Rest des Nachmittags bis zur Soko-Sitzung damit verbracht, noch einmal sämtliche Gesprächsprotokolle aus der Tatnacht zu sichten. Vielleicht gab es doch einen Hinweis auf einen Täter, den er bisher übersehen hatte. Er machte sich Notizen, fertigte verschiedene Skizzen zu sämtlichen Variationen an, die ihm in den Sinn kamen. Er stand auf, betrachtete all das aus der Vogelperspektive und raufte sich die kurzen Haare.
Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Daniel.
»Bin gleich wieder da«, informierte Brander Peppi. Er nahm das Handy und ging in den Sitzungsraum, der zurzeit nicht besetzt war.
»Ja?« Sein Herzschlag hatte sich beim Anblick des Namens im Display wieder unangenehm beschleunigt. Welche Nachricht erreichte ihn
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