Eisblume
dieses Mal? Er hatte nicht die Ruhe, sich zu setzen, trat ans Fenster, blickte auf die Konrad-Adenauer-Straße, sah den schneebedeckten Parkplatz auf der gegenüberliegenden Seite. Ein Mann und eine Frau liefen nebeneinander den Fußweg entlang. Zwei uniformierte Kollegen gingen auf den Eingang der Polizeidirektion zu.
»Ich bin’s. Stör ich?«, hörte er die angespannte Stimme seines Bruders.
»Nein, du störst nicht. Wie geht es dir?«
»Frag nicht.«
»Und Babs?«
Daniel brauchte ein paar Atemzüge, bis er antworten konnte. »Sie hat der Einweisung in eine psychiatrische Klinik zugestimmt. Morgen früh bringe ich sie hin.«
»Das ist gut. Es wird ihr helfen, wieder auf die Beine zu kommen«, versuchte Brander, Daniel Mut zu machen.
Daniel schwieg eine Weile. »Ich habe Angst, sie zu verlieren«, brachte er schließlich mühsam heraus. »Ich werde sie die erste Zeit nicht besuchen dürfen, haben die Ärzte gesagt.«
»Hm.« Was sollte er sagen? Es musste für seinen Bruder fürchterlich sein, so hilflos vor der Situation zu stehen.
»Ich glaube, ich habe eine Menge falsch gemacht. Ich habe ihre Probleme nicht ernst genug genommen. Ich habe einfach nicht gemerkt, was mit ihr los war. Ich …« Er konnte nicht weitersprechen.
»Anscheinend haben wir ja alle nichts gemerkt«, stellte Brander fest.
»Wie hättet ihr denn etwas merken sollen? Wir haben doch alles immer geheim gehalten.«
»Daniel«, Brander ließ sich auf einen Stuhl sinken, legte die Beine auf einen anderen Stuhl, den Blick auf das Fenster gerichtet. Weißblauer Himmel. »Dann hört doch jetzt endlich damit auf.«
Er musste sich wieder einige Sekunden gedulden, bis Daniel sich entschloss, zu sprechen.
»Babs hat seit Jahren schwere Depressionen. Also, eigentlich hatte sie schon immer … wie soll ich sagen … diese Neigung.« Er hielt inne, wartete mit angehaltenem Atem auf eine Reaktion. Als Brander schwieg, fasste er Mut, weiterzusprechen. »Früher war es nicht so extrem. Da gab es mal ein, zwei Wochen, in denen sie sich zurückzog, in denen sie schlecht drauf war und vielleicht auch mal geweint hat wegen irgendeiner Lappalie. Aber sie hat trotzdem noch alles geschafft. Sie hat den Haushalt geschmissen, sich um Julian gekümmert. Das lief alles, und ich habe mir keine Sorgen gemacht. Sie war ja sonst immer fröhlich und voller Tatendrang.«
Daniel seufzte schwer. »Vor gut drei Jahren wurden diese schlechten Phasen extremer. Weißt du, sie weinte oft grundlos, blieb tagelang im Bett, war zu nichts zu motivieren. Ich dachte, das ist so eine Art Midlife-Crisis. Julian wurde selbstständiger, ging seine eigenen Wege, sodass er sie nicht mehr so intensiv brauchte. Ich war in meinem Job sehr eingespannt und ständig unterwegs. Oft war ich ja die ganze Woche nicht zu Hause und hab nicht einmal mitgekriegt, was mit Babs los war. Julian hat es mir erzählen müssen. Da war er vierzehn. Du erinnerst dich vielleicht, das war die Zeit, als er mit diesem Gothic-Kram anfing.«
Brander erinnerte sich nur zu gut. Damals hatte es einige Male heftige Auseinandersetzungen zwischen Julian und seinem Vater gegeben. Davon hatte Daniel erzählt. Nicht jedoch von den Problemen seiner Frau.
»Ich habe ja versucht, Babs zu helfen, aber ich habe es auch einfach nicht verstanden. Sie weinte und konnte mir nicht erklären, warum. Sie konnte sich zu nichts aufraffen. Egal, was ich vorschlug. Gemeinsam essen gehen, ins Kino – sie liebt es normalerweise, ins Kino zu gehen –, einen Abend mit Freunden, ein Wellnesswochenende. Nichts. Sie wollte einfach nur im Bett liegen und schlafen. Ich hab sie gelassen. Ich meine, es waren ja auch immer nur Phasen, die nach zwei, drei oder vier Wochen wieder vorübergingen. Und jedes Mal, wenn es ihr wieder besser ging, haben wir gedacht, es wäre geschafft.«
»Seid ihr denn nie zu einem Arzt gegangen?«
»Doch, wir waren bei einem Arzt. Der wollte ihr Antidepressiva verschreiben, damit sie erst einmal wieder ins Gleichgewicht kommt. Aber das wollte sie nicht. Sie hatte Angst vor einer Abhängigkeit. Ich habe dann nach einem Therapeuten gesucht. Aber das wollte sie auch nicht. Sie sagte, sie wäre doch nicht verrückt, sondern einfach nur müde. Müde!«
Lebensmüde.
»Warum hast du uns nichts gesagt? Cecilia ist Therapeutin! Sie hätte mit Babs sprechen können«, entfuhr es Brander vorwurfsvoller, als er es wollte.
»Ich wusste, dass du das sagst!«, rief Daniel sofort aufgebracht. »Ich hätte gar nicht
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