Eisblume
hatte. Aber außer Brander war niemand sonst im Raum. Er zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich.
»Warum bist du vorgestern abgehauen?«
»Weil ich nicht zu meiner verfickten Mutter und ihrem verschissenen Macker wollte. Die gehn mir auf ‘n Sack.«
»Das heißt, du willst nicht wieder nach Hause.«
»Boah, bist du schlau, ey!«
»Wir könnten versuchen, dich in einer Pflegefamilie oder in einer Wohngruppe unterzubringen.«
»Wer wir? Die Schwanzlutscher vom Jugendamt, oder was? Die Wichser! Weißte, was die sagen? Da muss ich erst vor so ein Kackgericht und denen verklickern, dass meine Mutter eine Schlampe und versoffene Fotze ist und …«
Brander hob bremsend eine Hand. »Nathalie, stopp! Reiß dich zusammen! Kannst du nicht einmal normal reden? Ohne diese ganzen Kraftausdrücke?«
»He? Warum?«
»Weil es mich tierisch nervt.«
»Na und? Mich nervt auch einiges!« Sie sah ihn trotzig an.
»Bitte, Nathalie, versuch es mal, nur eine halbe Stunde.«
»Was krieg ich dafür?«
Er sah das Mädchen an. Da, wo vor zehn Tagen noch lange schwarze Haare gewesen waren, glänzte nun blasse, helle Kopfhaut. Wie ungewohnt, wie kalt musste das sein? »Eine neue Strickmütze«, bot er ihr an.
Sie strich sich kurz über den kahlen Kopf. »Die Wichser haben mir die Mütze geklaut. Meine Jacke auch.«
»Wer hat dir die Sachen geklaut?«
»Keine Ahnung. Ich war scheißestoned. So zwei verfickte Typen. Hab mit denen ‘n bisschen abgehangen. So allein ist halt scheiße. Aber das waren Arschlöcher! Verfickte, scheiß Arschlöcher! Haben mir die Mütze geklaut. Und die Jacke ausgezogen und so.« Sie drehte den Kopf schnell zur Seite, aber Brander hatte das Blinzeln gesehen.
»Nathalie, was heißt ›und so‹?«
»Und so halt.« Sie schniefte, wischte sich energisch mit dem Ärmel über die Augen. »Bin abgehauen, aber die Jacke war weg. Diese dreckigen Arschficker!«
Brander bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er überhörte ihre Kraftausdrücke und wünschte, er hätte Peppi bei sich. »Nathalie, haben die beiden dir irgendetwas getan?«
»Nein.«
»Schau mich bitte an.«
Sie drehte sich wieder zu ihm. »Nein! Die Pisser haben mir die Jacke geklaut. Ich hab dem einen Wichser in die Eier getreten, als der mich anpacken wollte, und bin abgehauen. Mir tut keiner was! Ich kann auf mich aufpassen.«
Brander spürte eine Welle der Erleichterung, hoffte, dass das Mädchen ihn nicht anlog. »Und so.« Es klang nicht nach einer harmlosen Abzocke.
Nathalie sah zum Fenster, presste dabei den sorgfältig unter der Decke versteckten Elefanten an sich. »Wenn mein Arm wieder okay ist, hau ich richtig ab, nach Kanada oder Amerika oder so. Und dann lern ich Truck fahren und alle können mich am Arsch lecken.« Ihre Augen begannen zu leuchten. »Ich fahr mit dem Truck durch ganz Amerika, und keiner kann mir was. Ich fahr immer nach der Sonne, nicht hier in diese Kackkälte!«
Brander erinnerte sich an das Poster in ihrem Zimmer und die vielen Truckbilder in ihrer Nachttischschublade. »Da bist du vielleicht noch ein bisschen zu jung«, gab er zu bedenken.
»Ist doch egal. Das interessiert in Amerika doch kein Schwein. Hier denken auch alle, ich wäre schon achtzehn.«
»Bist du aber nicht.«
»Ja und? Wen interessiert das?«
»Mich zum Beispiel.«
»Klar. Bis du aus ‘m Zimmer raus bist. Dann bin ich nämlich wieder scheiß allein. So ist das nämlich immer! Da kommen se vom Schulsozialdienst, vom Jugendamt, von der Bullerei. ›Ach, du armes kleines Mädchen!‹ Tüttel, tüttel, tüttel. ›Wir sprechen mal mit deiner Mutter. Und das geht ja so nicht. Möchtest du ein Bonbon?‹ Und dann quatschen die mit meiner besoffenen Mutter, winken noch mal und das war’s. Die Alte heult, der Macker stresst rum, und ich verpiss mich in mein Zimmer oder hau gleich ab, damit ich die verfickte Scheiße nicht ansehen muss. ›Deine Tochter! Immer nur Ärger mit dem Flittchen. Deine Tochter! Deine Tochter!‹ – ›Ich kann doch nichts dafür. Ich muss immer arbeiten.‹ – ›Jetzt heul hier nicht rum, du blöde Schlampe!‹ –›Lass mich doch in Ruhe, du Penner! Du könntest mir auch mal helfen.‹«, ahmte Nathalie den Streit ihrer Mutter mit deren Lebensgefährten nach.
»Die zoffen sich nur. Morgens, mittags, abends. Das geht mir so was von auf ‘n Sack! Und dann sind die ständig besoffen! Überall stehen Flaschen und dreckiges Geschirr und es stinkt. Wenn ich die ganze Scheiße nicht mal aufräumen würde, da
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