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Eisblut

Eisblut

Titel: Eisblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Heib
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geplanten Freizeitvergnügen? Ein größerer Zusammenhang, wie ihn etwa der
Landwirt in seiner existenziellen Abhängigkeit von der Natur im Auge hat, ist
dem Stadtmenschen nicht präsent. Und so entgeht ihm Sinnlichkeit und Schönheit,
so entgeht ihm das Seidige leichter Sonneneinstrahlung, das zärtliche
Streicheln eines Windhauchs, der Geschmack von frischem Schnee, die
unaufhaltsame Eindringlichkeit von Hitze, die verblüffende Abwesenheit von
Geruch in eiskalter Luft, das sanfte Stakkato prasselnden Regens auf einem
Blätterdach, die Poesie eines einzelnen glitzernden Wassertropfens auf leicht
gebräunter Haut, der überraschende Prankenschlag einer Sturmböe, die Tiefe von
Blau und das Dunkel der Dunkelheit.
    Christian, der nach Möglichkeit zu Fuß ging, liebte diese wenigen
Momente, in denen er die Aufmerksamkeit von dem inneren Kreiseln in seinem Kopf
abzog und mit der Haut, der äußeren Begrenzung seines Körpers, Kontakt aufnahm
zu dem Draußen, dem allumfassenden Großen, dem Meer des Seins und Seienden, von
dem er ein Teil war, und in diesen Bruchteilen von bewussten Sekunden, und nur
in diesen, durchströmte ihn ein Gefühl von Glück. Ein Glück, das nicht recht zu
passen schien zu diesem Anlass.
    Bevor er die Tür zur Feierhalle B im stillgelegten Krematorium
öffnete, fuhr er sich mit den Fingern durch die nassen Haare, strich sie nach
hinten und legte den Kragen seiner Jacke wieder nach unten. Die Kapelle, die
trotz ihrer Enge aufgrund der in einem großen Spitzbogen nach oben zulaufenden
Architektur kathedral wirkte, war leer. Christian war zu spät gekommen. Ein
Kirchendiener, der die Kerzen mit einem langen Eisenstab löschte, wies ihm den
Weg Richtung Westring, den der Trauerzug schon vor einer knappen halben Stunde
zum Grab genommen hatte. Christian musste sich beeilen.
    Die Trauergemeinde stand vor dem offenen Erdloch, in das gerade der
Sarg hinuntergelassen wurde. Dichtgedrängt standen sie, als könne ihnen die
Enge Wärme und Trost spenden, etwa fünfundzwanzig Menschen, alle in Schwarz
gekleidet, unter einem dunklen Dach aus aufgespannten, schwarzen Regenschirmen.
Ganz vorne befand sich Manuela zwischen Lars und einem hochgewachsenen,
braungebrannten Mann. Wohl Utas Vater, der zur Beerdigung angereist war,
mutmaßte Christian, und ein unwohles Gefühl überkam ihn. Er blieb auf Abstand,
sah sich um und entdeckte Pete etwas abseits neben einer Ulme. Ohne die
Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich zu lenken, ging er zu ihm. Pete, der
einen schwarzen, eleganten Trenchcoat über seinem nicht weniger eleganten Anzug
trug, ließ seinen Blick wortlos an Christians verbeultem Cordsakko herabgleiten
bis hinunter zu den schmutzstarrenden, ausgelatschten Schuhen. Christian zuckte
gleichgültig mit den Schultern. Er war dienstlich hier. Und privat hätte er
genauso ausgesehen.
    Während die Totengräber den Sarg in das frisch ausgehobene Grab
hinabließen, rezitierte der Pfarrer zum Abschluss seiner Grabrede ein Gedicht
von Rilke:
    Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
    als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
    sie fallen mit verneinender Gebärde.
    Und in den Nächten fällt die schwere Erde
    aus allen Sternen in die Einsamkeit.
    Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
    Und sieh dir andre an: es ist in allen.
    Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
    unendlich sanft in seinen Händen hält.
    Manuela Berger trat nach vorne ans Grab, gestützt von
Lars, der ihr die kleine Schaufel reichte, mit der sie nach Sitte und Gebrauch
eine Handvoll Erde auf den Sarg werfen sollte. Doch Manuela begann lauthals zu
schluchzen, ihre Knie gaben nach, und ihr Exmann musste hinzutreten, um Lars zu
helfen und Manuela auf die Seite zu führen. Die beiden Männer hielten sie
rechts und links, damit sie das Defilee der Kondolierenden überstand.
    Â»Links hinten in der Ecke stehen die WG-Mitbewohner. Halten die
Beerdigung wohl für ihre staatsbürgerliche Pflicht. Sonst jemand interessant
für uns?«, fragte Pete leise.
    Â»Keine Ahnung, ich kenne nur Mutter und Sohn«, gab Christian ebenso
leise zur Antwort. Mit einer Kopfdrehung deutete Pete auf Eberhard, der weit
entfernt unter einer Weide stand und mit einem Teleobjektiv diskret Fotos von
den Trauergästen machte. Christian und Pete ließen ihren Blick zwischen den
Gräbern und den Bäumen schweifen auf der Suche nach einem

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