Eiseskälte: Island-Krimi (German Edition)
antwortete nicht darauf.
Also schwiegen sie weiter.
»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt fortfahren soll«, sagte Ezra schließlich und seufzte schwer. »Ich weiß nicht einmal, weshalb ich das alles wieder aufrolle.«
In seiner Stimme lag eine Art von tieftrauriger Gewissheit, dass niemand dem vorherbestimmten Schicksal entgehen kann, das ihm vorherbestimmt ist. Erlendur war im Begriff, zu sagen, dass es ihm sicher guttun würde, sich über diese längst in Vergessenheit geratenen Ereignisse auszusprechen, doch im letzten Augenblick überlegte er es sich anders. Er war sich nicht sicher, ob er die Lage wirklich richtig einzuschätzen vermochte.
»Tust du es nicht wegen Matthildur?«, fragte er stattdessen.
Ezra hatte aus dem Fenster in die Berge oberhalb von Eskifjörður gestarrt, aber jetzt blickte er Erlendur wieder an.
»Glaubst du?«, fragte er.
»Du hast die ganzen Jahre nicht aufgehört, an sie zu denken.«
»Nein. Das stimmt. Und dafür gibt es auch einen Grund.«
»Sie verschwand.«
»Ja, sie verschwand. Aber wie und auf welche Weise, darüber werde ich nie und nimmer hinwegkommen.«
»Es verschwinden immer wieder Menschen«, sagte Erlendur.
»Menschen verschwinden, ja«, bestätigte Ezra. »Wenn es bloß so einfach gewesen wäre.«
Er blickte Erlendur unverwandt an. Es hatte den Anschein, als würde er wieder zu sich selbst finden. Er bemerkte, dass Erlendur ihm die Schrotflinte weggenommen und eine Decke über seine Schultern gebreitet hatte.
»Es kann gut sein, dass Jakob mir lauter Lügen erzählt hat«, sagte Ezra. »Das weiß ich nicht. Es ist mir auch gar nicht mehr möglich, das zu beurteilen. Matthildur wurde nie gefunden, mit der Tatsache musste ich mich abfinden. Trotzdem frage ich mich seitdem ständig, ob er mich vielleicht nur quälen wollte? Hat er es genossen, wie ich mich in Qualen vor ihm wand? War das seine Rache? Er hat mir alles Mögliche angedroht, falls ich nicht die Schnauze halten würde, und ich habe ihm geglaubt. Ich habe getan, was er mir sagte. Ich habe die Schnauze gehalten.«
Jakob stellte die Flasche ab, starrte Ezra an und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Willst du wissen, was passiert ist?«, fragte er.
»Ja.«
»Du hast schließlich ein Recht darauf.«
»Was ist passiert? Wovon sprichst du?«
»Ich spreche von Matthildur. Meiner Matthildur, Ezra. Bist du nicht deswegen hierhergekommen? Um über Matthildur zu sprechen? Wohl kaum, um mir Beileid zu wünschen. Ich werde dir von ihr erzählen, warte es ab. Ich werde dir ganz genau sagen, was passiert ist. Ich will, dass du es weißt, du hast dasselbe Recht darauf wie ich. Vielleicht sogar noch ein größeres. Ich war ja bloß ihr Ehemann, aber du durftest mit ihr schlafen! Du durftest sie vö…«
»Hör auf mit diesen ordinären Ausdrücken!«, sagte Ezra. »Sprich nicht so über sie.«
»Ordinäre Ausdrücke?«, wiederholte Jakob.
Er trank wieder einen Schluck aus der Flasche, stellte sie auf den Tisch und begann stockend zu erzählen, wie ihre Ehe langsam, aber sicher vor die Hunde gegangen war, nachdem Matthildur den Brief von ihrer Schwester Ingunn erhalten hatte. Es war ihm nicht gelungen, ihr beizubringen, dass er nicht der Vater des Kindes war und nicht gewusst hatte, dass sie Schwestern waren. Jakob hatte seinerzeit dafür gesorgt, dass keine Umstände bei der Hochzeit gemacht wurden, keine Hochzeit in der Kirche und keine Feier. Sie hatten sich im Haus des Pfarrers von Eskifjörður trauen lassen und niemanden eingeladen. Und im Nachhinein deutete sie das als Beweis dafür, dass er wegen Ingunn jeden Kontakt zu ihrer Familie vermeiden wollte. Er wollte einfach nichts mit ihren Verwandten zu tun haben. Und sie hatte ihm vorgeworfen, dass er ihr nicht treu sei, und deswegen könne sie es ja ihrerseits genauso halten, hatte sie gesagt.
»Ja, und dann stellte sich heraus, dass sie mir tatsächlich untreu geworden war«, sagte Jakob.
»Du wusstest also, dass Ingunn ihre Schwester war, als du dich mit Matthildur eingelassen hast?«, fragte Ezra.
Jakob kicherte.
»Ich habe versucht, es ihr zu sagen.«
»Was?«
»Dass ihre Schwester es mit jeder babylonischen Hure aufnehmen konnte. Aber dieses Balg ist nicht von mir! Das werde ich niemals zugeben!«
Vierunddreißig
Jakob war in der Nacht, die er angeblich in Reyðarfjörður verbringen wollte, wach geblieben und hatte ein Auge auf Matthildur gehabt.
Er war noch am gleichen Abend zurückgekehrt und hatte sich in der Nähe
Weitere Kostenlose Bücher