Eisfieber - Roman
offenbar nicht für nötig.
Sie musste ihm diese bequeme Illusion zerstören. »Was mich wirklich aufregt, ist nicht Jennifers Benehmen, sondern deines«, sagte sie.
»Ich weiß jetzt auch, dass es ein Fehler war, dich hereinzubitten, ohne sie vorher zu warnen.«
»Nein, darum geht es nicht. Wir alle machen Fehler.«
Er war erkennbar verärgert und sah sie fragend an. »Worum dann?«
»Ach, Ned! Du hast mich überhaupt nicht verteidigt!«
»Ich ging eigentlich davon aus, dass du dich selbst verteidigen kannst.«
»Du begreifst es einfach nicht! Natürlich kann ich das und brauche nicht bemuttert zu werden. Aber du solltest mein Beschützer sein.«
»Ein edler Ritter in schimmernder Rüstung …«
»Genau!«
»Ich hielt es für wichtiger, dass sich die Situation erst einmal ein wenig beruhigt.«
»Und damit lagst du eben falsch! Wenn ich angegriffen werde, erwarte ich von dir keine abgewogene Lagebeurteilung, sondern dann möchte ich, dass du mir zur Seite stehst.«
»Ich fürchte, so ein Kämpfertyp bin ich nicht.«
»Das weiß ich«, erwiderte Miranda, und beide schwiegen.
Die schmale Straße folgte der Küstenlinie eines Fjords. Sie kamen an kleinen Gehöften vorbei; auf den Weiden standen hier und da Pferde mit Winterdecken und grasten. Sie fuhren durch Dörfer mit weiß gestrichenen Kirchen und Häuserzeilen entlang der Küste. Miranda war deprimiert. Angenommen, die Familie nahm Ned herzlich auf, worum sie, Miranda, ausdrücklich gebeten hatte – wollte sie wirklich einen so passiven Mann heiraten? Sie hatte sich nach einem netten, gebildeten und intelligenten Mann gesehnt, doch jetzt war ihr klar, dass er auch stark sein sollte. War sie zu anspruchsvoll? Sie dachte an ihren Vater. Er war immer lieb, selten wütend, nie streitsüchtig – doch auf die Idee, ihn als schwach zu bezeichnen, war bisher noch nie jemand gekommen.
Ihre Stimmung besserte sich, als sie sich Steepfall näherten. Man erreichte das Haus über eine lange, gewundene Straße, die durch einen Wald führte. Wieder im offenen Gelände, umrundete sie dann eine Landzunge, deren Küste steil zum Meer hin abfiel.
Zuerst kam die Garage in Sicht. Es handelte sich um einen ehemaligen Kuhstall, der renoviert und mit drei Kipptoren ausgestattet worden war. Miranda fuhr daran vorbei und auf das Hauptgebäude zu.
Beim Anblick des alten Farmhauses, von dem aus sich ein weites Panorama über die Küste öffnete, seinen alten Steinmauern mit ihren kleinen Fenstern und dem steilen Schieferdach wurde Miranda von Kindheitserinnerungen überwältigt. Sie war mit fünf Jahren zum ersten Mal hierher gekommen, und jedes Mal, wenn sie zurückkehrte, verwandelte sie sich für ein paar Augenblicke in ein kleines Mädchen mit weißen Söckchen, das auf der granitenen Türschwelle in der Sonne sitzt und vor einer Klasse aus drei Puppen, zwei Meerschweinchen in einem Käfig und einem schläfrigen alten Hund Lehrerin spielt. Das Gefühl war sehr intensiv, aber nur flüchtig: Miranda wusste plötzlich genau, wie sie als Fünfjährige gefühlt und gedacht hatte, doch wenn sie die Erinnerung festhalten wollte, war ihr, als griffe sie in eine Rauchwolke.
Der dunkelblaue Ferrari ihres Vaters stand vor dem Haus. Stanley überließ es immer Luke, dem Mann für alles, ihn in die Garage zu fahren. Der Wagen war gefährlich schnell, obszön kurvenreich und sündhaft teuer für die täglichen acht Kilometer zur Firma und wieder zurück. Hier oben an der kargen schottischen Steilküste wirkte er genauso fehl am Platz wie eine hochhackige Kurtisane auf einem matschigen Bauernhof. Aber Stanley Oxenford besaß weder eine Yacht noch einen Weinkeller, noch ein Rennpferd, und er reiste auch nicht zum Skifahren nach Gstaad oder zum Spielen nach Monte Carlo. Der Ferrari war seine einzige Schwäche.
Miranda brachte ihren Toyota zum Stehen. Tom rannte sofort ins Haus, und Sophie folgte ihm, wenn auch langsamer. Sie hatte Stanley zwar vor ein paar Monaten auf Olgas Geburtstagsfeier kennen gelernt, war aber noch nie hier gewesen. Miranda beschloss, Jennifer fürs Erste zu vergessen. Hand in Hand mit Ned ging sie hinein.
Wie immer betraten sie das Haus durch die Küchentür an der Seite. Zunächst gelangten sie in einen kleinen Vorraum, in dem ein großer Stiefelschrank stand, und dann durch eine weitere Tür in die geräumige Küche. Für Miranda war es immer wieder eine Heimkehr. Vertraute Gerüche strömten auf sie ein: Es duftete nach gebratenem Fleisch, gemahlenem Kaffee
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