Eisige Naehe
erwachsen waren, war sie gezwungen, arbeiten zu gehen, schließlich hatte sie einen guten Beruf erlernt.
All dies war nicht spurlos an Henning vorübergegangen, wenn er in den Spiegel schaute, sah er es an den grauer werdenden Haaren, an den tiefen Falten auf der Stirn und um den Mund herum, die sich allmählich bildenden Altersflecken auf den Handrücken, dabei war er noch nicht einmal fünfzig Jahre alt. Spuren eines ereignisreichen und lange Zeit frustrierenden Lebens, die sich sowohl außen als auch innen zeigten. Er war hart geworden, lachte nur selten und ließ kaum jemanden an seinem Leben teilhaben. Nicht einmal Lisa Santos, mit der er schon seit vier Jahren zusammen war, wusste alles über ihn. Es gab Dinge, die seiner Meinung nach nur ihn betrafen und die er auch allein regeln musste. Obwohl Lisa von Beginn an bewusst gewesen war, worauf sie sich einließ, war sie hin und wieder traurig, dass er so verschlossen war. Dabei hatte er auch andere Seiten, er war zärtlich, verständnisvoll, ein guter Zuhörer und ein bisweilen phantasievoller Mann, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Und für sie besonders wichtig: Er war kein Macho.
Henning kannte seine Schwächen, er kannte sein Inneres. Dieses Innere wollte aber noch nicht zulassen, dass jemand anderes hineinblicken konnte. »Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht und ins Wohnzimmer gegangen. Irgendwann muss ich hier eingepennt sein.« »Was war los?«, fragte Santos, setzte sich zu ihm und legte ihm den Arm um die Schulter. »Macht dir der gestrige Abend zu schaffen?« »Hm.«
»Und was genau? Traust du Albertz nicht?« Henning wandte den Kopf und sah Santos an. »Ich weiß nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Nicht nur ich, auch du, wir sind gebrannte Kinder ...« »Ja, da hast du recht, aber ...«
»Nein, nein, das ist nicht nur mein übliches Misstrauen. Es gibt da einige Fragen, auf die ich partout keine Antworten finde. Zum Beispiel, warum Albertz nicht offiziell beim Verfassungsschutz als Mitarbeiter geführt wird. Wir wissen nicht das Geringste über ihn, weder in welcher Position er tätig ist noch was sein Aufgabenbereich ist. Alles, was er uns vorgestern und gestern erzählt hat, ist schwammig ...«
»Ich geb dir ja recht, nur was sollen wir jetzt tun?« »Ich bin noch nicht fertig. Ist dir gestern Abend bei Albertz etwas aufgefallen?«
»Ich weiß nicht genau, worauf du hinauswillst ...« »Ich habe ihn beobachtet. Er war die Beherrschung pur. Erinnerst du dich daran, wie ich fast auf ihn losgegangen wäre? Was ich natürlich niemals getan hätte, aber er sollte ruhig merken, wie sauer ich war.«
»Ja, sogar ich dachte, du würdest ihm gleich eine reinhauen.«
»Wie war seine Reaktion?«
Santos überlegte und schüttelte den Kopf. »Er hat nur dagesessen ...«
»Genau, es gab keine. Er saß da, sah mich an, und ich hatte das Gefühl, hätte ich versucht, ihn zu schlagen, er hätte dagegengehalten. Er hat einen auf lässig und cool gemacht, dachte ich zuerst, bis ich heute Nacht zu dem Schluss gekommen bin, dass er tatsächlich lässig und cool ist - im negativen Sinn. Warum hat er sich ausgerechnet uns als Kontaktpersonen ausgesucht? Weißt du's?«
»Nein, aber ...«
»Überleg doch mal. Angeblich ist der Kontakt über einen uns wohlgesinnten Menschen zustande gekommen. Ich habe mir das Hirn zermartert und finde niemanden aus unserem beruflichen oder gar privaten Umfeld, der uns Albertz hätte anempfehlen können. Niemanden. Warum erzählt er uns die ganze Geschichte, darunter auch, dass er angeblich Frau Schumann liebt?« »Ich habe ihn danach gefragt.«
»Das weiß ich. Aber als er so ausführlich von seiner großen Liebe erzählte, da haben bei mir mit einem Mal sämtliche Alarmglocken geläutet. So was macht keiner, wenn er nicht etwas verbergen will ...« »Das verstehe ich nicht.«
»Er lässt uns an seinem Leben und seinen Gefühlen teilhaben, um damit etwas zu verschleiern, nämlich seine wahre Persönlichkeit. Der Mann hat keine Gefühle, hat wahrscheinlich nie welche gehabt, sein Blick war die ganze Zeit über gleich, ausdrucks- und emotionslos. Keine Tränen, keine zittrige Stimme, nichts. Nicht einmal, als er von Frau Schumann sprach, die er angeblich so sehr liebt. Kannst du mir jetzt folgen?« »Ja, ich denke schon.«
»Okay. Aber, und jetzt kommt für mich das große Fragezeichen - warum hat er ausgerechnet uns, die er doch überhaupt nicht kennt, seine Liebesgeschichte erzählt? Angeblich wären wir
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