Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
gleichen feierlich-ernsten Ausdruck, den auch er bekam, wenn er glücklich war.
Schließlich hatte sie ihn erreicht und wartete, bis irgendetwas ihn dazu bewegte, den Kopf zu wenden. Dann war es soweit: Reglos stand er da und sah ihr einfach nur in die Augen. Sie hatte das Gefühl, als würde sich in ihrem Inneren ein Abgrund auftun und sie verschlingen. Noch immer berührte er sie nicht und lächelte auch nicht.
»Du bist gekommen.«
Frieda machte eine kleine Handbewegung, die Handflächen nach oben gewandt. »Irgendwie konnte ich nicht anders.«
»Was machen wir jetzt?«
»Können wir nach draußen gehen?«
»Vielleicht in den Park?«
»Der schließt bei Einbruch der Dunkelheit«, entgegnete Frieda.
Er lächelte. »Mit solchen Dingen kennst du dich aus, nicht wahr? Welche Parks nachts schließen und welche nicht.«
»Aber hinten gibt es eine Terrasse.«
Sie begaben sich nach draußen. Seine Schwester sah sie und setzte zu einer Bemerkung an, ließ es dann aber doch bleiben. Frieda hatte ihren Mantel drinnen gelassen, so dass die Kälte sie nun mit voller Wucht traf, was ihr jedoch nichts ausmachte. Sie fühlte sich wieder lebendig. Es spielte keine Rolle, ob es Schmerz oder Glück war, das sie durchflutete.
Obwohl sie nur ein paar Schritte gegangen waren, hatten sie von dort einen weiten Blick auf die Innenstadt. Hinter sich konnten sie noch immer die Musik hören und die Lichter des Hauses sehen.
»Es ist kein Tag vergangen«, sagte Sandy, »an dem ich nicht an dich gedacht habe.«
Frieda streckte eine Hand aus und strich ihm mit einem Finger über die Lippen. Er schloss die Augen und stieß einen kleinen Seufzer aus. »Bist das wirklich du?«, fragte er. »Nach all der Zeit.«
»Ja, das bin wirklich ich.«
Als sie sich endlich küssten, spürte sie durch den dünnen Stoff ihres Kleides seine Hand auf dem Rücken. Sandy schmeckte nach Champagner. Seine Wangen waren feucht, und sie dachte erst, dass sie es war, die weinte, doch dann begriff sie, dass es seine Tränen waren, und wischte sie weg. »Wo wohnst du?«, fragte sie.
»In meiner Wohnung. Sie war schon so gut wie verkauft, aber dann hat es doch nicht geklappt.«
»Können wir da hin?«
»Ja.«
Während der ganzen Taxifahrt zum Barbican sagten sie kein Wort. Im Lift sprachen sie auch nicht. Als er schließlich die Tür zu seiner Wohnung öffnete, fühlte sich das vertraut und zugleich ein wenig traurig an. Es roch ein bisschen muffig, ein bisschen verlassen.
»Dreh dich zu mir um«, sagte er.
Sie tat es. Er öffnete den Reißverschluss ihres schimmernden Kleides, und es glitt zu Boden. Wie eine Meerjungfrau stand sie zwischen seinen grünen Falten. Vierzehn Monate, dachte sie. Vierzehn Monate, seit er gegangen war. Der Mond schien durch die Vorhänge, und in dem sanften Licht betrachtete sie sein aufmerksames Gesicht und seinen starken Körper. Dann schloss sie die Augen und ließ los.
44
A ls Frieda erwachte, war es vier Uhr morgens, und sie spürte seinen warmen, geschmeidigen Körper neben sich. Leise glitt sie aus dem Bett. Trotz der Dunkelheit fand sie ihre Sachen und zog sich an. Schließlich griff sie nach Mantel, Schal und Schuhen. Die Schuhe würde sie erst an der Wohnungstür anziehen. Sie wollte damit nicht über den Holzboden klacken und ihn wecken. Wie aufs Stichwort drang aus dem Bett verschlafenes Gemurmel. Sie beugte sich über ihn und küsste ihn sanft auf Hinterkopf und Nacken.
Als sie sich schließlich auf den Weg machte, kam es ihr vor, als schliefe sie noch. Es war dunkel, still und kühl. Während sie auf der Golden Lane dahinmarschierte, die dann in die Clerkenwell Road einmündete, wurde ihr bewusst, dass dort, wo sie gerade entlangwanderte, früher die Londoner Stadtmauer verlaufen war. Damals wäre es ein Marsch durch Gärten und Obsthaine gewesen und über Bäche hinweg. Zumindest erzählten das die Touristenführer. Frieda aber dachte an die Phase, die danach gekommen war: die Verschläge, die Abfallberge, die unsoliden Bauten, die Hausbesetzer, die vielen kleinen Gauner – die Zeit, als das Land langsam der Stadt unterlag und starb.
Sie wechselte die Richtung, um in einem großen Bogen zurück nach Hause zu gehen. Nun tauchte sie in ein Viertel ein, wo sich Bürogebäude, Blöcke mit Sozialwohnungen und kleine Galerien aneinanderreihten. Hier riss der Verkehr nie ganz ab, und auf den Gehsteigen waren immer ein paar Nachteulen unterwegs, für die der Tag gerade zu Ende ging oder schon neu begann.
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