Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
sie fragten, wo sie den Mann kennengelernt habe, redete sie die ganze Zeit von Drake und dem Fluss.
»Fluvial«, bemerkte Karlsson. »War das nicht der Ausdruck, den Doktor Bradshaw benutzte?«
»Fluvial?«, wiederholte Jack.
»Ach, das war ein Haufen Mist«, entgegnete Frieda.
»Der Mann ist eine Koryphäe.«
»Michelle hat nur versucht, die Frage zu beantworten.«
»Warum hat sie sich dann nicht klarer ausgedrückt?«, wollte Karlsson wissen.
»Sie sieht die Welt nicht wie wir. Aber sie hat geantwortet, so gut sie konnte.« Frieda führte die beiden Männer an der Vorderseite des Gebäudes entlang, bis sie einen Fußweg erreichten, der seitlich des Hauses verlief. »Drake’s Alley«, verkündete sie.
»Und?«, fragte Karlsson.
»Michelle Doyce sammelt alle möglichen Sachen«, erklärte Frieda, »die sie dann nach Hause schleppt, um sie dort zu ordnen.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass sie zusammen mit ihren anderen Fundstücken auch eine Leiche eingesammelt hat?«
»Ich glaube, genau das versuchte sie uns zu sagen.«
Nun folgte eine lange Pause, während Karlsson angestrengt nachdachte.
»Sie glauben, Michelle Doyce hat eine Leiche gefunden und in ihre Wohnung getragen?«
»Es bestand keine Notwendigkeit, sie zu tragen«, entgegnete Frieda. »Es sind – was meinen Sie? – vielleicht fünf, sechs Meter von hier bis zu ihrer Haustür. Außerdem handelte es sich um eine Art Notfall. Sie war bestimmt davon überzeugt, ihm zu helfen.«
Karlsson nickte langsam. Seine Miene wirkte konzentriert. Und auf eine wehmütige Weise fast amüsiert, fand Frieda.
»Na dann«, sagte er. »Gut. Treten Sie zurück. Es könnte sich um einen Tatort handeln. Wir sollten hier möglichst wenig herumtrampeln.«
»Und Ihr Polizeipräsident?«
»Wird von mir informiert«, antwortete Karlsson. »Zu gegebener Zeit.«
Zu dritt standen sie da und spähten in die kleine Gasse hinein – einen matschigen Kiesweg, der mit Papierabfall, Plastiktüten und benutzten Nadeln übersät war. Weiter hinten hatte jemand einen Müllsack hingeworfen.
»Bradshaw könnte trotz allem recht haben«, gab Frieda zu bedenken. »Vielleicht hat Michelle ja tatsächlich über Männer und Frauen gesprochen. Sie wissen schon, Boote und Flüsse.«
»Jemand muss das ganze Zeug durchsehen«, erklärte Karlsson, als hätte er ihren Einwand gar nicht gehört. Er holte sein Telefon heraus. »Zum Glück haben wir Leute, die das für uns erledigen.«
Im Februar waren die Tage noch kurz. Sie wusste, dass Februar war, sie wusste sogar das genaue Datum, weil sie sich einen Kalender gemacht hatte. In der Schule war sie immer gut in Kunst gewesen, ihrem Lieblingsfach. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich selbst jetzt noch daran erinnern, wie sie sich als ganz kleines Mädchen gefühlt hatte, wenn sie ihren dicken Pinsel in den Farbtopf tauchte und damit eine leuchtende, gleichmäßige Linie über die leere Seite zog.
Die Bilder in diesem Kalender zeigten lauter Bäume. Einen Baum für jeden Monat. Als Mädchen hatte sie einen Skizzenblock besessen, den sie in der obersten Schublade ihres Schreibtisches aufbewahrte. Sie hatte damals sämtliche Baumsorten aus ihrem Garten hineingezeichnet: Esche, Eiche, Buche, Hagebuche, Falsche Akazie, Apfelbaum, Pflaumenbaum, Walnussbaum. Sie hatte Stunden damit zugebracht, die Stämme zu schraffieren und die Blätter möglichst wirklichkeitsgetreu hinzubekommen. Städte, Häuser und Menschen hatte sie nie gezeichnet – all die vielen Augen, die einen anstarrten, all die Gesichter, die aus den Fenstern spähten, auch wenn man vielleicht gar nicht merkte, dass man beobachtet wurde. Überall gab es Fremde, die hinter einem lauerten oder sich in irgendwelchen Ecken oder dunklen Winkeln versteckten. Aus diesem Grund bevorzugte sie menschenleere Landschaften. Sie mochte die Wüste, das Meer und große Seen.
Er hatte ihr das Papier gebracht, mehrere Bleistifte und auch Buntstifte. An einen Spitzer hatte er allerdings nicht gedacht, so dass sie gezwungen gewesen war, das Messer zu benutzen, mit dem sie die Kartoffeln schälte. Jeder Monat bestand aus jeweils einer Seite für den Baum und einer zweiten Seite, die sie in ein Raster für all die Tage einteilte. Dreißig Tage haben September, April, Juni und November … Es hatte eine Ewigkeit gedauert, aber sie hatte ja Zeit. Zumindest diese eine Sache besaß sie in Hülle und Fülle, während sie wartete. Sie hatte sich an den kleinen Tisch gesetzt und statt eines Lineals
Weitere Kostenlose Bücher