Eisiger Dienstag: Thriller - Ein neuer Fall für Frieda Klein 2 (German Edition)
ihre Geschichten angehört. Für Janet Ferris war er ein guter Nachbar gewesen, für Jasmine Shreeve ein respektvoller, aufmerksamer Privattrainer. Doch trotz seiner sympathischen Ausstrahlung hatte er offenbar keine Freunde gehabt und wohl auch keine Liebesbeziehungen, obwohl ihn die Leute als charmant und gut aussehend beschrieben. Und nachdem er ermordet und in einer schmutzigen Gasse abgelegt worden war, hatte Michelle Doyce ihn aufgelesen, und er hatte als nackte, bereits verwesende Leiche tagelang in ihrem Wohnzimmer gesessen, ohne dass ihn jemand vermisste.
Frieda warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zeit zu gehen. In fünfundvierzig Minuten würde sie in ihrem roten Sessel sitzen und Joe Franklin zuhören. Dabei würde sie ihn aufmerksam beobachten, ihn mit Fragen aus der Reserve locken, sich um seine Nöte kümmern. Ein leichter Schauder lief ihr über den Rücken. Fast kam es ihr vor, als wären die Leute auf Robert Pooles Liste ebenfalls seine Patienten gewesen, die seine Hilfe benötigten.
Hinter ihren Augenlidern blitzte es, und in ihrem Magen wüteten scharfe Klauen, die ihr stechende Schmerzen verursachten. In ihrem Kopf donnerte es. Das war aber kein richtiger Schmerz, eher ein quälendes Geräusch, eine tosende Angst, die abwechselnd anschwoll und wieder verebbte, näher kam und sich wieder entfernte, um bald darauf mit neuer Gewalt zurückzukehren. Sie musste unbedingt einen klaren Kopf bekommen, aber wie sollte das gehen, wenn in ihrem Schädel dieser laute, wütende Sturm brauste? Früher nahm sie immer Tabletten, wenn sie sich so fühlte, eine große, orangerote Kapsel, die sie mit einem Glas Wasser hinunterspülte. Ihre Mutter legte sie ihr morgens immer hin und wartete, bis die Kapsel unten war. Inzwischen aber hatte sie keine Tabletten mehr. Es war lange her, dass sie die letzte genommen hatte, sie konnte sich kaum noch daran erinnern. Das alles war im Nebel der Vergangenheit versunken, die sie hinter sich gelassen hatte. Er hatte ihr klargemacht, dass man ihr die Medikamente nur gab, um sie gehorsam und gefügig zu machen und ihre Wut zu dämpfen, die doch eigentlich gerechtfertigt und kraftvoll war. »Du brauchst keine Pillen, sondern einen Plan für dein Leben«, hatte er gesagt und ihr dabei eine Hand auf die Stirn gelegt wie ein gütiger Arzt oder Vater, der ein krankes Kind beruhigte. »Außerdem hast du jetzt ja mich«, hatte er hinzugefügt, »das darfst du nie vergessen.«
Aber sie hatte ihn nicht mehr. Er war nicht gekommen. Sie saß ganz allein in dieser feuchten Kälte, und der Wind draußen war genauso eisig wie der, der durch ihren Kopf brauste. Ihre Gedanken polterten laut und wirr durcheinander. Und Hunger hatte sie auch. Der Kartoffelvorrat war aufgebraucht, das Gas ebenfalls. An diesem Morgen hatte sie einen Brühwürfel in kaltes Wasser gerührt und dann seine salzigen, halb aufgelösten Körnchen getrunken und nur mit Mühe den Würgereiz unterdrückt. Ihre Lippe war mehr oder weniger verheilt, aber wenn sie in den kleinen Spiegel blickte, kam ihr die wulstige Narbe wie ein höhnisches Lächeln vor. Das würde ihm gar nicht gefallen. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass sie zu stinken begann, obwohl sie immer noch versuchte, das harte Stückchen Seife in ihre Haut zu reiben, und auch in ihre paar Kleidungsstücke, die sie anschließend wie nasse Lappen zum Trocknen in der ganzen Kabine verteilte. Aber nichts trocknete mehr richtig.
Wie lange ging das nun schon? Sie nahm ihren Kalender mit den Bäumen, hielt ihn vor das schmale Fenster und kniff die Augen zusammen. Fast den ganzen Januar und mehr als den halben Februar. Allerdings hatte sie wohl irgendwann aufgehört, die Tage anzukreuzen. Womöglich war ja schon März. Vielleicht kam bald der Frühling mit seinen Narzissen, frischen Knospen und warmen Sonnenstrahlen. Aber das glaubte sie nicht. Es fühlte sich nicht nach Frühling an.
Trotzdem dauerte es zu lang, selbst wenn noch Februar war. Achtundzwanzig Tage, in einem Schaltjahr sogar neunundzwanzig. War dieses Jahr ein Schaltjahr? Man konnte einen Mann durchaus fragen, ob er einen heiraten wollte. Aber man konnte ihn das nicht fragen, wenn er nicht da war. Allein. Allein in einer Welt voller grausamer Fremder und scheinheilig lächelnder Gesichter. Was hatte er gesagt? »Ich komme immer wieder zurück. Wenn ich irgendwann nicht mehr komme, weißt du, dass sie mich erwischt haben.« Dann hatte er sie auf die Stirn geküsst. Tapfer. Sie musste auch tapfer sein.
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