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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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Licht der südlichen Sonne getaucht, einer matten Kupferscheibe, die hartnäckig am nördlichen Horizont stehen blieb. Es war, als würde das Bild von einer riesigen Laterne beleuchtet, die mit den letzten wenigen Tropfen Öl brannte.
    »Willkommen in den Screaming Fifties«, sagte Lieutenant Healey in einem etwas kameradschaftlicheren Ton. »Erst südlich des fünfzigsten Breitengrades lernt man, was ein richtiger Sturm ist.«
    Der Bug des Eisbrechers richtete sich auf, so mühelos, als würde er von unten hochgehoben, bis er fast senkrecht auf die zerrissenen Sturmwolken zeigte, die über den Polarhimmel rasten. Kathleen hielt sich am Steuerrad fest und stützte sich mit weit auseinandergestellten Füßen ab, während Michael versuchte, am Handlauf Halt zu finden. Er wusste, was jetzt folgte, denn was nach oben ging, musste auch wieder herunterkommen.
    Wenige Sekunden später hatten sie den Wellenkamm hinter sich gelassen. Er spürte, wie die Dünung den Schiffsboden unter seinen Füßen erzittern ließ, dann schwankte das Schiff und fiel wie ein Stein, der einen steilen Berghang hinabjagte. Durch die Frontscheibe der Steuerkabine blickte Michael direkt in ein gewaltiges Wellental, eine finstere Kluft, so breit wie eine Schlucht, aber mit nichts darin als einem Boden aus Wasser, der sogar noch weiter zurückzuweichen schien, als das Schiff kopfüber darauf zustürzte.
    Kathleen sagte: »Aye, aye, Sir« in ihr Headset und drehte das
Steuerrad nach rechts. Michael schmeckte die Pasta im Mund, die er zum Dinner gegessen hatte. »Tiefe eintausendfünfhundert Meter«, bestätigte sie die Worte des Kapitäns unter ihnen.
    Das Schiff schien endlos zu stürzen, dann drehte es sich, während das Wasser wie durchsichtige Wände um sie herum aufragte, und neigte sich steuerbords. Selbst hier oben, knapp dreißig Meter über dem Deck und doppelt so weit von den Dieselturbinen entfernt, hörte Michael, wie die Maschinen mit voller Kraft liefen und die Schiffsschrauben sich drehten, manchmal nur in der Luft, als das Schiff sich durch das Minenfeld aus Eisbergen vorankämpfte.
    »Wenn Sie gläubig sind«, sagte Lieutenant Healey und sah Michael zum ersten Mal direkt an, »dann beten Sie jetzt.« Sie drehte das Rad erneut nach rechts. »Unter uns liegen die Wracks von mindestens achthundert Schiffen und die Leichen von zehntausend Seeleuten.«
    Die
Constellation
hielt direkt auf einen Eisberg zu, der plötzlich drohend vor ihnen aufragte wie ein Meeresgott.
    »Scheiße, den hätte ich sehen müssen«, murmelte Kathleen in ihr Headset. »Ja, Sir, ich sehe ihn, Sir. Das werde ich«, fügte sie hinzu und drehte am Rad.
    »Ich hoffe, ich lenke Sie nicht ab«, rief Michael über den Lärm des prasselnden Eisregens und des Windes hinweg. »Falls es Sie tröstet, ich habe ihn auch nicht gesehen.«
    »Das ist auch nicht Ihr Job«, sagte sie, »sondern meiner.«
    Michael schwieg, damit sie sich konzentrieren konnte, und dachte stattdessen an den Friedhof unter sich, an die Trümmer von Hunderten von Schiffen – Schoner und Schaluppen, Briggs und Fregatten, Trawler und Walfänger. Sie alle waren vom Eis traktiert, von den Wellen zerschlagen und vom schneidenden Wind in Stücke zerrissen worden. Und er dachte an die Tausende Männer, die in diesen wütenden, leeren und endlosen Schlund gefallen waren. Männer, deren letzter Blick vielleicht den Masten
ihrer Schiffe gegolten hatte, die wie Zweige umknickten, oder einer glitzernden Eisscholle, die auf ihre Köpfe stürzte und sie nach unten drückte, eintausendfünfhundert Meter tief, bis auf den Grund des Meeres, zu dem niemals ein Lichtstrahl drang.
    Was mochte wohl direkt unter ihnen liegen, viele Faden tief unter dem Rumpf der
Constellation
, bis in alle Ewigkeit auf dem Grund des Ozeans gefangen?
    Plötzlich schlingerte das Schiff von einer Seite zur anderen. Lieutenant Healey drehte das Steuerrad erneut nach rechts und sagte zum Kapitän: »Hart steuerbord, Sir!« Michael sah die Welle ebenfalls. Sie schien Kraft zu sammeln, während sie wie eine Mauer auf sie zukam und ihre Flügel zu beiden Seiten ausbreitete. Sie hob Eisbrocken von der Größe eines Hauses in die Höhe und schien selbst das gleichförmige Licht der Sonne auszulöschen.
    »Halten Sie sich gut fest!«, bellte Kathleen, und Michael stützte sich breitbeinig mit ausgestreckten Beinen gegen die Wand. Er hatte noch nie gesehen, dass sich so etwas Großes mit solch einer Geschwindigkeit und Kraft vorwärts bewegte und dabei

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