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Eisiges Blut

Eisiges Blut

Titel: Eisiges Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
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»Nightingale, komm schon! Na los!« Er drückte Eleanors Ellenbogen, und ihr war, als würde ihr
ganzer Arm, nein, ihr ganzer Körper von einem Fieberschauer ergriffen. Sinclairs Hand blieb, wo sie war, obwohl sein Blick an den Pferden hing, die gerade auf den weit entfernten Pfosten zustürmten.
    »Das Weiße wird schwächer«, frohlockte Moira.
    »Und das Schwarze sieht ebenfalls erschöpft aus«, sagte Sinclair und trommelte nervös mit seinem eigenen zusammengerollten Programm auf das Geländer. »Komm schon, Nightingale! Du schaffst es!«
    In diesem Moment wirkte Sinclair so jungenhaft anziehend, mit der gespannten Begeisterung und dem hellen, im Sonnenlicht nahezu unsichtbaren Schnurrbart. Eleanor war es nicht entgangen, dass er die Aufmerksamkeit anderer Frauen auf sich zog. Als sie durch die Menge geschlendert waren, hatten sich die Sonnenschirme fröhlich gedreht, als hofften ihre Besitzerinnen, ihn dadurch auf sich aufmerksam machen zu können. Eine junge Frau am Arm eines älteren Gentleman war sogar so weit gegangen, ihr Taschentuch vor Sinclairs Füßen fallen zu lassen. Er hatte es aufgehoben, es ihr mit einem unverbindlichen Lächeln überreicht und war weitergegangen. Eleanor war sich ihrer eigenen Aufmachung immer stärker bewusst geworden und wünschte, sie hätte ebenfalls etwas Farbenprächtigeres, Eleganteres oder Passenderes zum Anziehen gehabt. Aber sie besaß nur dieses eine gute Kleid aus nüchternem dunkelgrünem geripptem Taft mit altmodischen Ballonärmeln. Am Hals war es hoch geknöpft, und besonders an Tagen wie diesem wünschte sie sich ein Kleid, das zumindest ein Stück ihres Halses und ihrer Schultern freiließe.
    Moira hatte einfach die Knöpfe ihres Kragens geöffnet. Sie trug ein pfirsichfarbenes Kleid, das gut zu ihren Haaren und ihrem Teint passte. Trotzdem presste sie das kalte, aber leere Limonadenglas an ihre Kehle. Sie sah aus, als würde sie gleich vor wachsender Aufregung in Ohnmacht fallen.
    Die Pferde rasten auf der Innenbahn der ovalen Bahn entlang, und das weiße war in der Tat schwächer geworden. Der Jockey peitschte es erbarmungslos, aber mit jeder Sekunde fiel das Pferd weiter zurück. Das Schwarze, ein munterer Hengst, behielt sein Tempo bei, in der Hoffnung, es ohne große Anstrengung bis zur Ziellinie zu schaffen. Nightingale’s Song hingegen war ganz und gar noch nicht erschöpft, im Gegenteil. Erst jetzt schien das Pferd bis zum Äußersten zu gehen. Eleanor konnte jede einzelne Sehne und jeden Muskel der wirbelnden, stampfenden Beine erkennen. Der Kopf bewegte sich auf und ab, wie der Jockey, der ihr in unbequemer Haltung weit nach vorn gebeugt die Sporen gab, während die kastanienbraune Mähne ihm ins Gesicht flatterte.
    »Bei Gott«, schrie Sinclair, »sie wird es schaffen!«
    »Ja!«, jubelte Moira, »sie wird gewinnen!«
    Doch der schwarze Hengst hatte noch nicht aufgegeben. Wie es bei Rennpferden häufig der Fall war, wenn sie aus den Augenwinkeln den Gegner näherkommen sahen und das Gefühl hatten, geschlagen zu werden, holte er noch einmal alles aus sich heraus. Die letzte Achtelmeile lag vor ihnen, und sie lagen nahezu Kopf an Kopf, doch in diesem Moment setzte Nightingale’s Song eine Reserve frei, die sie bis zum letzten kritischen Moment zurückgehalten hatte. Als würde ein plötzlicher Wind ihr Antrieb geben, zog sie an dem schwarzen Hengst vorbei. Die scharlachrote Seide loderte wie Flammen an ihren Flanken, als sie vor Schweiß glänzend über die Ziellinie schoss. Der Schiedsrichter auf dem Podest schwenkte eine goldene Flagge vor und zurück und vor und zurück.
    Die Menge geriet in Aufruhr, enttäuschte Rufe von jenen, die gewettet und verloren hatten, erschollen, aber hier und da auch Freudenschreie und Erstaunen. Eleanor nahm an, dass Nightingale’s Song nicht der Favorit gewesen war, was, wie sie wusste, nur zu ihrem Vorteil war. Sie studierte den Papierstreifen in ihrer
Hand, doch als Moira am Platz einen wilden Tanz veranstaltete und von einem Fuß auf den anderen hüpfte, nahm Sinclair ihr den Wettschein aus der Hand.
    »Gestatten Sie, dass ich Ihren Gewinn hole?«
    Eleanor nickte, und Moira strahlte. Papierstreifen, von den Verlierern in der Mitte durchgerissen, wehten wie Konfetti von den Tribünen und wirbelten über ihren Köpfen. Als Eleanor und Moira aufblickten, führten drei Jockeys ihre erschöpften Tiere zu einem Rund neben der Schiedsrichterbühne. Sie zogen ihre farbenprächtigen Seidentrikots aus und einer der

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