Eisiges Herz
den Zauberstab darüber. Dann streute er etwas von dem Pulver auf die Folie.
»Sieht aus wie lauter Abdrücke von den vorherigen Seiten. Wenn du willst, können wir den Brief unters Mikroskop legen, um festzustellen, welche zuerst da waren.«
»Sieh dir das an«, sagte Cardinal.
Er zog das Foto heraus, das gerade aus dem Schlitz kam. Die Schrift auf dem Abschiedsbrief war jetzt in Weiß abgebildet. Aber am unteren Rand des Fotos war noch etwas anderes zu sehen, ein großer, schwarzer Daumenabdruck, genau in der Mitte.
»Ziemlich viel größer als der andere«, sagte Hunn. »Und ohne Narbe. Ich bin kein Experte für Fingerabdrücke, aber ich würde sagen, der hier stammt von einem ganz anderen Daumen.«
Kurze Zeit später begleitete Hunn Cardinal zu den Aufzügen, wo sie schweigend warteten, bis ein Klingelzeichendie Ankunft des Fahrstuhls ankündigte. Cardinal stieg ein und drückte den Knopf für das Erdgeschoss.
»Sag mal«, murmelte Hunn nachdenklich. »Diese Geschichte hat doch nichts mit dir zu tun, oder? Ich meine, mit dir persönlich? Du bist nicht zufällig der John aus dem Notizbuch?«
»Danke für deine Hilfe, Tommy«, sagte Cardinal, als die Aufzugstüren sich schlossen. »Ich weiß deine Unterstützung sehr zu schätzen.«
Da sie am selben Tag nach Algonquin Bay zurückfuhren, verbrachten Cardinal und seine Tochter insgesamt acht Stunden gemeinsam im Wagen. Auf der Rückfahrt sprachen sie kaum miteinander.
Cardinal erkundigte sich bei Kelly, wie der Tag mit ihrer Freundin verlaufen war.
»Schön. Jedenfalls hat sie sich nicht wie Kim in ein Gemüse verwandelt. Sie ist immer noch im Kunstgeschäft und scheint halbwegs mitzubekommen, was in der Welt vor sich geht.«
Kelly drehte sich eine Strähne ihres blauschwarzen Haars um den Finger, während sie aus dem Fenster schaute.
Cardinal musste daran denken, wie seine Freunde sich in dem Alter verändert hatten. Viele hatten das Interesse an ihm verloren, als er Polizist geworden war, und die meisten seiner Freunde aus Toronto hatten ihn abgeschrieben, nachdem er nach Algonquin Bay zurückgezogen war.
»Man weiß nie, wie die Leute reagieren«, hatte Catherine gesagt. »Jeder hat seine eigenen Pläne, und manchmal kommen wir darin nicht vor – meistens, wenn wir wünschten, wir täten es. Und manchmal schließen sie uns ein – meistens, wenn wir wünschten, sie täten es nicht.«
Und jetzt, Catherine?
Wie soll ich damit zurechtkommen, dass du nicht mehr da bist?
»Wie ein Polizist«, stellte er sich ihre Antwort vor. Mit dem angedeuteten Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn sie ihn aufzog. »So wie du mit allem zurechtkommst.«
Aber es hilft nicht, hätte er am liebsten geschrien. Nichts hilft.
Sie fuhren an WonderWorld vorbei, einem riesigen Freizeitpark mit einem künstlichen Berg und gigantischen Karussells nördlich von Toronto. Kelly wollte wissen, wie es im Forensic Centre gelaufen war, doch Cardinal murmelte nur etwas Nichtssagendes vor sich hin. Er hätte ihren frustrierten, mitleidigen Blick nicht ertragen.
Nachdem sie Orillia hinter sich gelassen hatten, sagte sie: »Ich nehme an, wir gehen noch zum Abendessen ins Sundial?«
»Leider nicht«, erwiderte Cardinal. »Das Sundial ist geschlossen.«
»Oje, oje. Das Ende einer Ära.«
Sie mussten sich mit Sandwiches von Tim Hortons begnügen, die nach nichts schmeckten.
Als sie zu Hause ankamen, war es dunkel. In den bewaldeten Hügeln herrschte Stille, ein Balsam für die Ohren nach dem Großstadtlärm von Toronto. Und es war kälter hier. Der zur Hälfte verborgene Mond beleuchtete Quellwolken, die reglos über dem Wasser hingen. Der See lag ruhig und glänzend da wie blank poliertes Leder.
Als Cardinal die Haustür öffnete, trat er auf die Ecke eines quadratischen, weißen Umschlags. Er hob ihn auf, ohne ihn Kelly zu zeigen.
»Ich gehe duschen«, sagte Kelly, während sie sich den Mantel auszog. »Nach so vielen Stunden im Auto fühlt man sich ganz verschwitzt.«
Den Umschlag mit zwei Fingern an einer Ecke festhaltend, ging Cardinal in die Küche. Er schaltete das Licht an und betrachtete die Adresse.
Er war sich ziemlich sicher, dass er eine feine, weiße Linie erkennen konnte, die sich durch das
M
und das
R
von
Madonna Road
zog.
10
B ei seinem ersten Besuch bei Dr. Bell war Cardinal gar nicht aufgefallen, wie sehr die Einrichtung seines Sprechzimmers darauf ausgerichtet war, dass seine Patienten sich wohlfühlen konnten. Die großen, sonnigen Fenster mit ihren
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