Eisiges Herz
zarten Gardi nen, so hell wie Segel, die zimmerhohen Regale mit Büchern über Psychologie und Philosophie, die vertrauenerweckend nach Tinte und Leim und Papier rochen, die alten Perserteppiche, alles in dem Raum strahlte Stabilität, Dauerhaftigkeit und Weisheit aus – zweifellos Qualitäten, an denen es den Patienten eines Psychiaters mangelte. Der Raum war eine Zufluchtsstätte vor dem Chaos des Lebens, ein Kokon, in dem man sich geborgen genug fühlte, um sein Inneres zu erforschen.
Cardinal ließ sich auf das Sofa sinken, das Sofa, auf dem Catherine so oft gesessen hatte. Er bemerkte die Kleenexschachteln, die diskret an beiden Enden des Sofas und auf dem Tisch platziert waren – genauso viele Papiertaschentücher wie in Desmonds Bestattungsinstitut –, und er fragte sich, wie oft Catherine hier gesessen und geweint haben mochte. Hatte sie auch darüber gesprochen, wie enttäuscht sie von ihrem Mann gewesen war – der ihr nicht genug Aufmerksamkeit schenkte, nicht liebevoll oder nicht geduldig genug war?
»›Wie sehr muss sie dich gehasst haben‹«, las Dr. Bell von der letzten Beileidskarte vor. »›Du hast sie total im Stich gelassen.‹« Er schaute Cardinal über seine Lesebrille hinweg an.
»Wie haben Sie reagiert, als Sie das gelesen haben? Ich meine, was war Ihre ganz spontane Reaktion darauf?«
»Dass er recht hat. Oder sie. Wer auch immer das geschriebenhat. Dass es stimmt, dass ich sie im Stich gelassen habe, und dass sie mich wahrscheinlich deswegen gehasst hat.«
»Glauben Sie das?«
Die gütigen Augen des Arztes ruhten auf ihm – kein forschender Blick, kein Röntgenblick, nur abwartend, während sich in seinen Brillengläsern die Fenster wie helle Quadrate spiegelten.
»Ja, ich glaube, ich habe sie im Stich gelassen.«
Was Cardinal
nicht
glauben konnte, war, dass er so mit jemandem redete. Er redete nie so mit jemandem, außer mit Catherine. Etwas an Dr. Bell – etwas auf unaufdringliche Weise Erwartungsvolles, ganz zu schweigen von den drahtigen Augenbrauen und all dem Cordsamt – nötigte einem Ehrlichkeit ab. Kein Wunder, dass Catherine ihn gemocht hatte, auch wenn …
»Was ist?«, fragte Dr. Bell. »Sie zögern.«
»Mir ist gerade etwas eingefallen«, sagte Cardinal. »Etwas, das Catherine einmal zu mir gesagt hat, nachdem sie bei Ihnen gewesen war. Ich sah ihr an, dass sie geweint hatte, und ich fragte sie, was los sei. Wie es gelaufen sei. Und sie sagte: ›Ich mag Dr. Bell. Ich finde ihn großartig. Aber manchmal kann selbst der beste Arzt einem sehr wehtun.‹«
»Das ist Ihnen jetzt eingefallen, weil meine Frage Ihnen wehgetan hat.«
Cardinal nickte.
»In der Psychotherapie sagt man: Es muss erst schlimmer werden, ehe es besser wird.«
»Ja. Das hat Catherine mir auch erzählt.«
»Nicht dass man je die Absicht hätte, einem Patienten das Leben noch schwerer zu machen«, sagte Dr. Bell. Seine Hände spielten mit einem Gegenstand aus Messing, der auf seinem Schreibtisch stand. Das Ding sah aus wie eine winzige Dampflok. »Aber jeder Mensch entwickelt Abwehrmechanismen,die ihn vor bestimmten Erkenntnissen über sich selbst und seine Lebenssituation schützen – vor der Wirklichkeit, im Grunde genommen –, und die Therapie bietet einen sicheren Rahmen, innerhalb dessen diese Schutzmauern ab gebaut werden können. Diese Arbeit leistet der Patient selbst, nicht der Therapeut, dennoch ist es ein äußerst schmerzhafter Prozess.«
»Zum Glück bin ich nicht als Patient hier. Ich wollte nur mit Ihnen über diese Karten sprechen. Natürlich ist mir klar, dass Sie kein Profiler sind …«
»Ich fürchte, ich verfüge über keinerlei Erfahrung in forensischer Psychologie.«
»Das macht nichts, ich führe keine offiziellen Ermittlungen durch. Aber ich würde gern Ihre Meinung darüber hören, was für ein Mensch das sein könnte, der solche Karten schreibt. Sie wurden in zwei verschiedenen Orten aufgegeben, aber auf demselben Gerät ausgedruckt.«
»In welcher Sache genau ermitteln Sie denn – offiziell oder inoffiziell?«
»Catherines T…« Cardinal blieb die Luft weg. Er konnte das Wort im Zusammenhang mit Catherine immer noch nicht aussprechen, obwohl bereits mehr als eine Woche vergangen war. »Catherine.«
»Heißt das, Sie glauben nicht, dass sie sich selbst das Leben genommen hat?«
»Der Gerichtsmediziner hat Suizid festgestellt, und meine Kollegen auf dem Revier teilen seine Meinung. Mir persönlich fällt es etwas schwerer, diese Sichtweise zu
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