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Eisiges Herz

Eisiges Herz

Titel: Eisiges Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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abwartend an. Es war wichtig, dass der Patient nach der Begrüßung als Erster etwas sagte, denn die ersten Worte enthüllten so vieles. Aber manchmal, wie zum Beispiel jetzt, war es schwer zu warten, bis der Patient überwunden hatte, was auch immer ihn am Sprechen hinderte, und die Sitzung beginnen konnte. Die Minuten vergingen.
    Melanie wirkte wesentlich älter als achtzehn. Sie war dürr und schmalbrüstig und erinnerte Bell irgendwie an eine ertrunkene Ratte. Sie hatte eine lange, flache Nase und langes, strähniges Haar, das ihr ins Gesicht fiel. Das Sweatshirt mit dem Schriftzug der Northern University trug auch nicht dazu bei, den Gesamteindruck zu verbessern. Den Blick immer noch auf ihre Füße geheftet, fing sie endlich an zu sprechen.
    »Ich konnte mich kaum dazu aufraffen herzukommen«, sagte sie.
    »Es ist Ihnen schwergefallen? Können Sie mir sagen, warum?«
    »Ich weiß nicht …« Wieder versank sie in Schweigen, während ihr linker Fuß wie ein Metronom hin und her wackelte. »Ich find mich einfach so zum Kotzen. Es kotzt mich an, über mich nachzudenken. Über mich zu sprechen. Es gibtnichts, worüber es sich zu reden lohnt. Warum soll ich also herkommen? Warum soll ich das alles hundertmal wiederkäuen?«
    »Meinen Sie, dass Sie es nicht wert sind, dass man über Sie spricht? Oder dass nichts, was Sie sagen, dazu beitragen kann, dass es Ihnen besser geht?«
    Zum ersten Mal hob sie den Blick, Verzweiflung in den grünen Augen, dann senkte sie ihn wieder.
    »Beides, glaub ich.«
    Dr. Bell ließ das Schweigen eine Weile währen, ließ sie die Übertreibung ihrer Äußerungen spüren oder eher die Übertreibungen der Gestalt mit der Maske, die außerhalb ihres Blickfelds im Schatten lauerte. Die Wesenheit brachte ihre Opfer immer dazu, so zu reden. Dazu, dass sie sich einredeten, wertlos zu sein, um nur ja keine Anstrengung zu unternehmen, sich selbst zu retten.
    »Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte Bell. »Angenommen, jemand würde auf Sie zukommen – eine Freundin, eine Fremde, das spielt keine Rolle – und sagen: ›Am besten, du sprichst nicht mal mit mir. Ich bin so wertlos. Ich bin es nicht mal wert, dass man über mich nachdenkt.‹ Was würden Sie zu ihr sagen?«
    »Ich würde ihr sagen, dass das Unsinn ist. Dass niemand wertlos ist.«
    »Aber sich selbst gegenüber sind Sie nicht bereit, so großzügig zu sein.«
    »Ich weiß nicht … Ich weiß nur, dass ich die ganze Zeit so unglücklich bin. Ich hab es satt, darüber zu reden. Reden hilft nicht. Nichts hilft. Ich will einfach nur, dass es aufhört. Ich hab sogar …«
    »Sogar was?«
    Melanie fing an zu weinen. Nach einer Weile nahm Bell die Kleenex-Schachtel vom Tisch und reichte sie ihr. Sie riss einpaar Papiertücher heraus, hielt sie jedoch nur in der Hand. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht mit der anderen Hand.
    »Warum verstecken Sie sich?«, fragte Bell, doch das führte nur dazu, dass das Schluchzen noch heftiger wurde. Man konnte es an den zuckenden Schultern sehen, an dem lauten Wehklagen hören.
    »O Gott«, stieß sie hervor, als sie keine Tränen mehr hatte.
    »Das war offenbar nötig.«
    »Ja, wahrscheinlich. Puh.« Sie wirkte erschöpft.
    »Sie sagten: ›Ich will nur, dass es endlich aufhört. Ich hab sogar …‹«
    »Ja.« Immer noch japsend und seufzend putzte Melanie sich die Nase. »Ja. Ich war neulich im Buchladen, und da gab es ein Buch über Freitod. Begleiteten Freitod, nehm ich an. Es hieß
Ein würdiger Tod
. Darin wird beschrieben, wie man es macht … wie man sich umbringt … ohne Schmerzen. Im Prinzip braucht man sich nur eine Plastiktüte über den Kopf zu stülpen.«
    »Und?«
    »Na ja, ich hab das Buch am Ende doch nicht gekauft. Aber ich bin ziemlich lange in dem Laden geblieben und hab darin gelesen.«
    »Weil Sie schon darüber nachgedacht hatten, sich das Leben zu nehmen.«
    »Ja.«
    »Okay. Eine ganz direkte Frage, Melanie – ich muss das wissen: Haben Sie schon einmal versucht, sich das Leben zu nehmen?« Er war sich sicher, dass die Antwort negativ ausfallen würde.
    »Nein. Eigentlich nicht.«
    »Wie meinen Sie das: eigentlich nicht?«
    »Na ja, ich hab mir mal mit einer Rasierklinge am Handgelenk rumgekratzt, aber es hat richtig wehgetan. Wenn es umSchmerzen geht, bin ich ein echter Feigling. Ich konnte mir noch nicht mal tief genug in die Haut ritzen, dass es blutete.«
    »Wann war das?«
    »Ach, das ist schon lange her. Als ich zwölf war oder so.«
    »Zwölf. Haben Sie damals einen

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