Eisiges Herz
Bell trank seinen Tee aus, der mittlerweile kalt war, aber er hatte nichts gegen kalten Tee. Tee war immer gut. Manche britischen Gewohnheiten waren einfach schwer abzulegen.
»Ich hab übrigens ein nettes kleines Häuschen in der Nähe von Nottingham gefunden«, sagte Dorothy. »Ich hab dir ein Bild davon auf den Schreibtisch gelegt. Wahrscheinlich bist du noch gar nicht dazu gekommen, einen Blick darauf zu werfen.«
»Ach je, hab ich dich schon wieder enttäuscht.«
»Frederick, was ist so schwer daran, sich ein Bild anzusehen?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich kann mich immer noch nicht mit der Idee anfreunden, mich in England zur Ruhe zu setzen.«
»Wir haben doch darüber gesprochen. Ich dachte, wir wären uns einig gewesen, dass es uns dort beiden gefallen würde. Es ist ein hübscher kleiner Ort, in Fußnähe zur Küste. Und der Trent River fließt ganz in der Nähe. Du hast immer gesagt, du wolltest in der Nähe von Wasser leben, wenn du in den Ruhestand gehst.«
»Helden gehen nicht in den Ruhestand. Das liegt nicht in unserer Natur.«
»Irgendwann wird dir nichts anderes übrig bleiben, und ich habe keine Lust, mit anzusehen, wie du in den endlos langen kanadischen Wintern die ganze Zeit im Haus rumschleichst.«
»England ist zu teuer, verdammt. Das Pfund steht so hoch wie lange nicht.«
»Es ist wieder gefallen, Frederick. Wir können uns dieses Häuschen leisten. Es ist so romantisch.«
Was dieses Thema anging, hatte Dorothy ihr gesunder Menschenverstand verlassen, fand Bell. Das Haus, das sie hier in Kanada besaßen, war riesig, fast eine Villa. Aber in England kosteten selbst die kleinsten Hütten eine halbe Million Pfund. Dorothy schien eine völlig falsche Vorstellung davon zu haben, was ein Psychiater in Kanada verdiente. Sie lebten schließlich nicht in den Staaten. Na ja, es machte ihr halt Freude, die Immobilienprospekte mit den bunten Bildern von hübschen Häusern und romantischen Gärten zu studieren, und ein bisschen zu träumen konnte ihr nicht schaden.
Bell stellte seine Tasse auf der Anrichte ab und zwickte seine Frau in den Hintern.
Dorothy wirbelte herum und schlug ihm auf die Finger. »Komm mir jetzt bloß nicht damit. Mitten am helllichten Tag, Herrgott noch mal.«
»Nichts könnte mir ferner liegen. Ich habe in fünf Minuten eine Patientin. Ich muss mich auf meine
Würde
konzentrieren.«
»Sehr richtig. Vergiss bloß nicht deine
Würde
. Wo kämen wir denn da hin?«
In den ersten Jahren ihrer Beziehung, als sie noch in London gelebt hatten, waren Bell und seine Frau ständig übereinander hergefallen. Aber mit den Jahren war ihre Leidenschaft einer gewissen Gewohnheit gewichen, was Bell völlig in Ordnung fand. Sie liebten einander, und sie gingen fürsorglich miteinander um, das war ihm das Wichtigste. Natürlich war Dorothy ihm intellektuell unterlegen, aber es war angenehm, mit ihr zusammen zu sein. Sie sah immer noch gut aus, obwohl sie schon Mitte fünfzig war. Sie hatte ein schmales Gesicht und die schlanke Figur einer wesentlich jüngeren Frau.
Bell wusch sich im Bad im Erdgeschoss die Hände. Er ließ seine Schultern kreisen, dann öffnete er die Tür, die die Küche von der Diele und seinem Sprechzimmer trennte. Eine junge Frau mit blonden Haaren, die dringend einer Wäsche bedurften, saß auf der Bank in der Diele. Andere Patienten hätten vielleicht im
New Yorker
geblättert oder mit einem iPod herumhantiert, aber diese junge Frau hatte nicht einmal ihre Jacke abgelegt und lümmelte sich mit vor der Brust verschränkten Armen auf der Bank. Das war Melanie, achtzehn Jahre alt, ein Bild des Elends.
»Hallo, Melanie«, sagte Bell.
»Hallo.«
Selbst in diesem einzelnen Wort lag eine Trägheit, die zeigte, welche Mühe es sie kostete, diese beiden Silben auszusprechen. Augenblicklich war die Depression mit im Raum,eine dritte Wesenheit. Bell stellte sie sich wie eine schweigende, für den Patienten unsichtbare Gestalt mit Umhang und Maske vor. Manchmal kam Bell sich vor wie der alte Priester in dem Film
Der Exorzist
, vom Schicksal dazu bestimmt, immer wieder im Kampf gegen die unsterbliche Nemesis anzutreten. Die Wesenheit.
Melanie folgte ihm ins Sprechzimmer, setzte sich auf die Couch, knöpfte ihre Jacke auf und ließ ihre Umhängetasche zu Boden gleiten. Dann lehnte sie sich zurück und betrachtete ihre Füße. Dr. Bell nahm in einem der kleinen Sessel ihr gegenüber Platz, legte sich seinen großen Notizblock auf die Knie und schaute sie ernst und
Weitere Kostenlose Bücher