Eisiges Herz
eine unerschütterlich weiche, schnurrende Stimme. Man konnte sich kaum vorstellen, dass er einmal Polizist gewesen war, aber er war fünfzehn Jahre bei der Ontario Provincial Police gewesen, ehe er seine sanfte Seite entdeckt hatte. Jedes Mal, wenn Cardinal mit ihm telefonierte, hatte er das Bild eines fetten Katers vor Augen.
»Ich muss ihn wegen was anderem sprechen«, sagte Cardinal und hupte, als ein Wagen vor ihm plötzlich die Spur wechselte. »Und zwar sofort.«
»Sie klingen ziemlich aufgebracht, John. Wenn Neil gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hat, sagen Sie es am besten. Wir sollten doch keine Geheimnisse voreinander haben, oder?«
»Ich sag’s Ihnen, wenn ich mit ihm gesprochen hab. Geben Sie mir jetzt seine Adresse?«
»690 Main Street East. Aber er wird nicht zu Hause sein. Er hat zur Zeit zwei Jobs.«
»Lassen Sie mich raten: Er arbeitet ehrenamtlich im Krisenzentrum.«
»Nein, es wird nicht so bald passieren, dass Neil misshandelte Frauen tröstet. Er arbeitet an drei Tagen die Woche bei Wal-Mart und an vier Tagen bei Zappers.«
»Dem Copy-Shop?«
»Genau. Hören Sie zu, John, Sie haben hoffentlich nicht vor, da reinzuplatzen und seinen Job zu gefährden, oder? Ich hege keine besonderen Sympathien für Männer, die ihre Frauen verprügeln, aber Neil hat seine Strafe abgesessen, und jetzt macht er einen ehrlichen Versuch …«
»Tja, was sagt man dazu? Ich bin schon am Wal-Mart«, sagte Cardinal, trennte die Verbindung und fuhr auf einen Parkplatz von der Größe mehrerer Fußballplätze.
Cardinal ging äußerst selten zu Wal-Mart. Es war so schwer, dort etwas zu finden, und die Preise waren die Mühe nicht wert. Außerdem waren die Gänge meistens von fettleibigen Pärchen verstopft, die Kinderwagen vor sich herschoben, aber diesmal war es relativ leer. Auf jeden Fall unterstützte er lieber die kleinen Läden in der Innenstadt – ein Unterfangen, das ihm von Jahr zu Jahr mehr wie ein Kampf gegen Windmühlen vorkam.
Das Einzige, was Cardinal an Wal-Mart sympathisch fand, war, dass sie ältere Menschen einstellten. Auch wenn dort reichlich Teenager beschäftigt waren, die betont hilflos herumstanden, gab es doch viele ältere Angestellte, die ihre Rente aufbesserten, indem sie verwirrten Kunden halfen, die Dinge zu finden, die sie suchten. Cardinal fragte eine winzige Frau von etwa siebzig, wo er Grußkarten finden könne.
»Gleich da drüben«, sagte die Frau. »Im nächsten Gang.«
Cardinal überflog die Beileidskarten. Ja, es gab reichlich Karten von Hallmark.
»Aha«, murmelte er. »Unser tiefes Beileid …«
Er nahm eine Karte heraus, die identisch war mit der dritten, die er erhalten hatte, dann eine, die genauso aussah wie die zweite. Die erste Karte war offenbar ausverkauft.
»Haben Sie gefunden, was Sie suchen?«, fragte die alte Dame, als er an ihr vorbeiging.
»Ja, danke. Können Sie mir sagen, ob Neil Codwallader heute hier ist?«
»Neil? Der Große, der in der Fotoabteilung arbeitet?«
»Viele Muskeln, viele Tätowierungen«, sagte Cardinal.
»Ah, ja. Er war heute hier. Aber ich glaube, er ist schon nach Hause gegangen.«
Sie erklärte ihm den Weg zur Fotoabteilung. Man brauchte wirklich ein Moped in diesem Laden.
»Neil ist vor einer Stunde gegangen«, sagte der jugendliche Angestellte in der Fotoabteilung. »Er hat irgendwo noch einen anderen Job.«
Zehn Minuten später war Cardinal am anderen Ende der Stadt und stellte seinen Wagen vor Zappers im Parkverbot ab.
Zappers war die Art Laden, in den man ging, wenn man von außerhalb war und unbedingt seine E-Mails abrufen musste, wenn man ein Fax abschicken oder empfangen musste oder wenn man ein betrügerisches Unternehmen betrieb und eine anonyme E-Mail-Adresse brauchte. Außerdem konnte man hier zu Minimalpreisen veraltete Computer benutzen. Als Cardinal eintrat, war nur eine Kundin im Laden, eine Asiatin, die mit Lichtgeschwindigkeit auf einer Tastatur tippte.
Codwallader stand mit dem Rücken zum Verkaufsraum hinter dem Tresen und war gerade dabei, einen Riesenstapel Papiere zu kopieren. Als er sich umdrehte, erkannte er Cardinal nicht gleich.
Mit seinen langen Haaren und seinem Walrossschnurrbart hätte er vor dreißig Jahren Furore machen können, wenn er ein Rockstar gewesen wäre, dachte Cardinal. Im Gefängnis waren seine Muskeln, über denen sich sein T-Shirt spannte, nicht schlaffer geworden. Seine Unterarme waren über und über tätowiert.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
»Das
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