Eiskalt Entflammt
Schutzwall angewandt und perfektioniert. Umso mehr brachte sie ihre Wut aus dem Konzept. Warum reagierte sie so heftig auf ihn? Sein Verhalten hatte sie eindeutig verletzt. Dass man jemanden ignorierte, okay. Aber er hatte ihr das Gefühl gegeben, als sei sie es nicht wert, im selben Raum mit ihm zu sein. Es war verstörend zu spüren, wie verwundbar sie in seiner Nähe schien. Sie fragte sich , woher sein abweisendes Verhalten rührte . Sie hatte ihm keinen Anlass für Zorn geboten, sie war doch eben erst angekommen.
Wovor schützte er sich?
*
So hart er konnte , schlug Scar auf den Sack ein.
Verfluchte Scheiße.
Wieder ließ er eine Salve harter Schläge auf den Boxsack nieder. Er spürte nichts. Dunkel konnte er sich an die Worte seiner Mutter erinnern, als er noch ein kleiner Junge war. Sie hatte ihm erklärt, dass man sich den Menschen gegenüber immer so verhalten sollte, wie man selbst auch von ihnen behandelt werden möchte. Dabei hatte sie ihm ein mildes Lächeln geschenkt und ihn voll Stolz angesehen. Die Erinnerung an diesen Moment rief auch eine längst verloren geglaubte Szene wieder wach. Kaum konnte er sich an die Zeit vor ihrem Tod erinnern, die ersten zehn Jahre seines Lebens waren irgendwo tief in ihm verborgen, aber er wusste, dass er damals noch ein anderer gewesen war. Damals hatte er seine Mutter angelächelt. Eine Reaktion, die irgendwo aus seinem Inneren kam. Damals war dort noch etwas gewesen. Wie schon so oft versuchte er , das Erlebte in Gedanken wiederzubeleben, aber das setzte ein Bewusstsein für Gefühle voraus. Und das war nicht da. Er konnte sich die Bilder noch so oft ins Gedächtnis rufen, es kamen nur schwammige, surreale Erinnerungen. Eindrücke ohne Gefühl, auch wenn er wusste, dass dieser Junge, der er einmal gewesen war, seine Mutter geliebt hatte, konnte er diese Emotion nicht mehr wahrnehmen.
Ein Teil von ihm war gestorben.
Er schlug weiter auf den Sack ein. Wenn er an seine Mutter dachte, kamen auch die Gedanken an diesen einen Tag zurück. Der Tag, der ihn zu dem gemacht hatte, was er war. Eine Hülle voller Leere . Seine Fingerknöchel waren aufgeplatzt und bluteten, als er aufhörte , den Sack zu bearbeiten. Kein Gefühl hatte ihn vor der Verletzung gewarnt. Alle seine Sensoren waren vor langer Zeit abgestorben.
Er wusste Gut von Böse zu unterscheiden und hatte sich für eine Seite entschieden. Er hatte sein Leben sortiert, kannte seine Ziele und hielt sich stabil. Zum Großteil hatte er dies dem Team zu verdanken. Bei der SGU gab es klare Strukturen und bis heute ein klares Verhaltensmuster, wie er zu funktionieren hatte. Jules hatte ihm vorhin gesagt, dass er der Neuen gegenüber zu unhöflich gewesen war. Seine Reaktion auf ihre Anwesenheit war ihm selbst neu. Als er gesehen hatte, wie sie von ihrer Maschine abgestiegen war, hatte er festgestellt, dass die Muskeln in seinen Armen angespannt waren. Das ergab keinen Sinn. Genauso wenig wie das gerade eben. Es erinnerte ihn an etwas, das er einmal gekannt hatte. Aber er konnte es nicht greifen. Er lehnte seine Stirn an das Leder und atmete tief durch. Wie zur Hölle sollte er wissen, wie er sie behandeln sollte, wenn er selbst nicht wusste, wie sich Dinge anfühlten?
Schon als er die Trainingshalle betreten hatte, wusste er, dass sie da war. Aber was hätte er sagen sollen? Er konnte Dinge wertschätzen, honorieren, wenn auch nicht empfinden , und es hatte gut ausgesehen, wie sie durch die Luft flog. Ein ungewohnter Gedanke. Für ihre Körpergröße schien sie viel Kraft zu haben. Er hatte den Blick nicht von ihrer schimmernden Haut abwenden können, als ihr Shirt einen Teil ihres Bauches freigelegt hatte. Allein ihre Anwesenheit sorgte dafür, dass er diese eigenartigen Gedanken bekam. Das war seltsam und verwirrend. Das passte nicht. Etwas war anders, wenn sie im selben Raum war. Aber dann fiel ihm wieder ein, wie sie seine Narben taktiert hatte. Ihr Blick war unverblümt, auch das hatte eine seltsame Wirkung auf ihn gehabt . Es war nicht angenehm gewesen, und diese Reaktion war er nicht gewohnt.
Die anderen kannten ihn und seine entstellte Visage schon ewig , und er war sicher, sie sahen die Narben nicht einmal mehr. Sie hatten ihn als das Monster akzeptiert, für das er sich selbst hielt. Innerlich und äußerlich. Bei ihr jedoch hatte er etwas in den Augen gesehen, was er nicht einordnen konnte. Wahrscheinlich war es Entsetzen. Er wusste nicht, wie viel Abscheu sie bei seinem Anblick empfunden
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