Eiskalte Rache: Thriller (German Edition)
Musikrichtungen seines MP 3-Players durch und entschied sich wie immer für französische Chansons. Er hatte ein paar billige CD s in einem Korb neben der Kasse einer Tankstelle gefunden, und schließlich war es ihm auch gelungen, sämtliche CD s auf dem MP 3-Player zu speichern. Als er begriffen hatte, wie es funktionierte, hatte er immer, bevor er mit dem Auto zur Arbeit fuhr, zwei Platten seiner eher bescheidenen Sammlung auf den MP 3-Player kopiert, eine für den Hin-, die andere für den Rückweg. Inzwischen hatte er etliche hundert Titel gespeichert, die sich in beliebiger Kombination abspielen ließen.
Er war sehr stolz auf seine kleine Sammlung, trotzdem wählte er fast immer französische Chansons.
Er drehte die Musik auf, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Musik versetzte ihn immer in eine weit zurückliegende Zeit, in die sorgenlose Zeit, in der Angela und er keine Hindernisse auf dem Weg zum Glück gesehen hatten. Zwei Mädchen kurz hintereinander. Eine fast perfekte Ehe, und eine Zukunft voller Hoffnung und Herausforderungen. Aber der breite Weg, den sie Hand in Hand entlanggewandert waren, war ohne Vorwarnung zu einem verschlungenen, schmalen Pfad geworden, auf dem nicht mehr alle Platz gefunden hatten. Es war schnell gegangen. Die Krankheit hatte sie ihnen so rasch entrissen, dass sowohl er selbst als auch Eva und Linda das Unerhörte erst viel später fassen konnten. Angela, die Stärkste von ihnen, verschwand und ließ eine große Leere zurück, die sie auch jetzt, zwei Jahrzehnte später, noch nicht zu füllen vermocht hatten. Es würde ihnen auch in Zukunft nicht gelingen, und sie würden es auch nicht anstreben. Als das Chaos über die Familie hereingebrochen war, hatten alle ihr Beileid ausgesprochen und ihm zu verstehen gegeben, dass die Zeit alle Wunden heile.
Aber sie hatten sich geirrt.
Die Kälte begann ins Innere des Autos zu dringen, und unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft öffnete er seufzend die Augen, machte die Musik aus und ging ins Haus.
Ich muss die Mädchen anrufen, dachte er, nachdem er seine Jacke aufgehängt und ein paar Minuten im Haus herumgelaufen war, um überall Licht anzuschalten. In einigen Zimmern sogar mehrere Lampen. Linda, seine jüngere Tochter, hatte sich nicht gemeldet, obwohl er wusste, dass sie von einer vierwöchigen Reise in ein lateinamerikanisches Land, wo sie an einem Friedensprojekt teilgenommen hatte, zurückgekehrt war. Er ging davon aus, dass sie sich in eine Krisenregion mit einem wenig freundlich gesinnten Regime begeben hatte, aber um welches Land es sich konkret gehandelt hatte, war, wie er verärgert feststellte, vollkommen aus seinem Kurzzeitgedächtnis gelöscht worden.
Eva hatte ihn vor einigen Monaten angerufen und ihm mitgeteilt, es könne etwas dauern bis zum nächsten Besuch. Ihre Arbeit als amtliche Begleitperson der Strafvollzugsbehörde nahm sie sehr in Anspruch. In der letzten Zeit habe die Zahl der Abschiebungen sprunghaft zugenommen, und alle müssten Überstunden machen. Er hatte das für einen Vorwand gehalten, aber nichts gesagt.
Als Nahid in Ulf Holtz’ Leben getreten war, hatte sich vieles verändert. Nicht unbedingt nur zum Besseren. Er hatte gehofft, das Verhältnis zu seinen Töchtern werde keinen ernsten Schaden nehmen, und beschlossen, nichts übers Knie zu brechen. Aber jetzt sah alles anders aus. Er lief im Haus herum und versuchte, genug Mut aufzubringen, um Eva anzurufen. Er wollte wirklich gerne mit seinen Töchtern Weihnachten feiern, wusste aber nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Schließlich wollte er nicht, dass sie aus Mitleid zu ihm kamen, sondern weil sie wirklich Lust hatten. Er holte sein Handy, das er in der Jackentasche vergessen hatte, und fingerte unentschlossen daran herum. Langsam strich er über die konkaven, viel zu kleinen Tasten, konnte sich aber nicht dazu durchringen, Evas Nummer zu wählen.
Er rief an diesem Abend nicht an. Stattdessen setzte er sich mit einer Tasse Tee in die Küche. Eine Zeitung lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Er blätterte zerstreut darin herum und landete wie immer bei den Familienanzeigen. Geburten interessierten ihn nicht, auch nicht die glücklichen Menschen, die dem Rest der Welt erzählen wollten, sie hätten Ringe getauscht und würden jetzt glücklich leben, bis dass der Tod sie scheide. Routiniert überflog er die Todesanzeigen, um zu sehen, ob jemand ungewöhnlich jung gestorben war, aber alle schienen das irdische Dasein verlassen zu
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