Eiskalte Rache: Thriller (German Edition)
Schreihälse nie ernst genommen und hatte sich nicht vorstellen können, dass sie je ernstzunehmenden Einfluss in der Gesellschaft erlangen könnten. Aber diese Sache bereitete ihm Unbehagen. Oft hatten seine Töchter und er darüber gesprochen, warum die Neonazis eigentlich so unbehelligt blieben, und manchmal hatte Eva dabei Dinge gesagt, die ihn stutzig gemacht hatten. Er hatte immer geglaubt, dass sie ihn nur provozieren wollte, aber in seinem Innersten gewusst, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Die Art, wie sie über die Leute sprach, die sie bei der Ausweisung begleitete, hatte ihn bekümmert. Aber diese Gedanken hatte er natürlich für sich behalten.
Holtz beugte sich vor und packte die schwere Tischplatte, die auf dem Fußboden lag. Etwas hatte sich darunter verkeilt, und er hatte Mühe, sie anzuheben.
Endlich gelang es ihm, sie hochzuwuchten und dann umzukippen. Ein vertrauter Geruch ließ ihn innehalten.
Langsam ging er in die Hocke. Aus der Brusttasche zog er einen dünnen Metallstab, der sich auf die doppelte Länge ausziehen ließ. Er zögerte, stach ihn aber schließlich in den rußigen, starren Haufen auf dem Boden. Der Stab stieß auf Widerstand, ließ sich dann jedoch weiterschieben.
Obwohl er wusste, was das war, konnte er es nicht recht begreifen. Es war nicht das erste Mal, aber gewöhnen würde er sich daran wohl nie.
Er erinnerte sich an ein Fest in Südeuropa. Wein und Gesang.
Und gegrilltes Fleisch.
Pia Levin blätterte zerstreut in ihren Papieren. Sie spürte die Müdigkeit, die sie immer häufiger überkam. So viel Arbeit, so viele Spuren, denen es zu folgen galt, langsam verlor sie den Überblick. Sie schenkte sich aus dem Karton auf dem Tisch ein Glas Wein ein und lehnte sich im Sofa zurück.
Der Fund in dem niedergebrannten Vereinslokal hatte sie beide entsetzt. Holtz hatte sie aus dem hinteren Zimmer zu sich gerufen, und im ersten Moment hatte sie sich geärgert, dass er sie bei der Arbeit an der Fotodokumentation störte.
Aber irgendwas in seiner Stimme hatte sie dazu veranlasst, sofort innezuhalten und zu ihm zu gehen.
Ulf Holtz war neben einem schwarzen, gestaltlosen Haufen in die Hocke gegangen.
Noch ehe sie bei ihm angelangte, war ihr klar, worum es sich handelte. Holtz’ Miene war nicht misszuverstehen. Trauer und Schmerz standen in seinen Augen.
»Wer kann das sein?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht. Mach ein paar Fotos, dann lasse ich den Gerichtsmediziner kommen.«
An dem Leichnam war nicht mehr viel Menschliches. Zusammengekauert lag er halb versunken in der schwarzen Masse, die den Boden bedeckte. Das, was von den Armen noch übrig war, war um die Überreste des Kopfes gelegt.
Der Leichnam wurde abtransportiert. Es würde Tage dauern, die Identität zu ermitteln.
Das Einzige, was sie wussten, war, dass die Person das Vereinslokal betreten hatte, nachdem Ulf Holtz es verlassen hatte. Aus irgendeinem Grund hatte sich das Opfer an dem abgesperrten Tatort befunden, als das Feuer ausgebrochen war, und war in den Flammen umgekommen.
Nach dem Fund der Leiche forderte Ulf Holtz das Hinzuziehen der Brandanalytiker, ungeachtet dessen, wie viele Schulen niedergebrannt seien. Man erfüllte seinen Wunsch. Die Experten wollten sich noch in derselben Nacht der Brandstätte annehmen.
Pia Levin und Ulf Holtz waren nach Hause gefahren.
Levin trank einen großen Schluck Wein und las weiter. Sie begriff es nicht. Gabriel Seger war vom Jugendamt betreut worden, und nach nur wenigen Monaten hatte man ihn zur Adoption freigegeben.
Sie las die Entscheidung ein weiteres Mal. Niemand hatte sich der Adoption widersetzt, weder die Mutter des Jungen noch die Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits. Johan Seger war offenbar nicht gefragt worden, obwohl man ihn trotz seiner Verurteilung hätte anhören müssen. Gegen jede übliche Praxis, die vorgesehen hätte, dass der Junge bis auf weiteres bei einer Pflegefamilie geblieben wäre, war der kleine, schwer misshandelte Junge also adoptiert worden, und anschließend hatte niemand mehr nach ihm gefragt.
Da stimmte was nicht.
Pia Levin wusste sehr viel über Blutsbande. Die Freigabe eines Kindes zur Adoption war derart traumatisch, dass immer eine Verbindung zur Vergangenheit bestehen blieb.
Immer gab es Menschen, die die Wahrheit wissen wollten.
Sie nahm das Urteil gegen Johan Seger zur Hand und las es mehrere Male, ohne klüger zu werden. Anschließend widmete sie sich einem dicken Papierstapel, auf dem »Gutachten des
Weitere Kostenlose Bücher