EISKALTE UMARMUNG: Poesie der Angst. Thriller
fahren und den Fundort von Rebeccas Leiche gründlich unter die Lupe zu nehmen.
Im Wohnzimmer stand eine Ansammlung nicht zueinander passender Möbel, gruppiert um einen Beistelltisch aus Acryl. In der Ecke stand eine Madonnenstatue aus Sandelholz, wahrscheinlich ein Mitbringsel aus Asien. Der Boden war mit einem kleinen apricotfarbenen Wollteppich ausgelegt, dessen Ränder mit viereckigen Kupferelementen eingefasst waren. An eine Pinnwand waren Fotos des Opfers sowie eine Miss-Wahl-Urkunde und Zeitungsausschnitte geheftet.
Seit dem Mord war nichts bewegt oder verändert worden.
Die unerträgliche Stille des Todes lag im Raum und drohte jeden zu ersticken, der ihn betrat. Im Keller hatte man Pinsel und Farbe, Tapeten und Kleister gefunden. Alles deutete auf eine bevorstehende Renovierung hin.
Laut Spurenbericht war der Täter durch die Tür hereingekommen, wahrscheinlich mit dem Haustürschlüssel. Das Schloss war nicht beschädigt gewesen. Also musste er Rebeccas Leiche in der Nacht unbemerkt mit dem Aufzug in ihre Wohnung in den zweiten Stock gebracht haben.
Van Cleef ging langsam an der winzigen Küche vorbei und weiter den Flur entlang. An der ersten Tür blieb er stehen und warf einen Blick ins Badezimmer.
Er folgte den Fußspuren des Täters, die Luft schien stickiger zu werden. Er erreichte die Schlafzimmertür und erinnerte sich an den ersten Eindruck, den das Zimmer auf ihn gemacht hatte: Die sonst so gemütliche Atmosphäre der Wohnung fehlte hier völlig. Merkwürdig, dachte er. Gerade dort schätzte man doch eine gewisse Atmosphäre.
Er schaltete das Licht ein, und von neuem überwältigte ihn das Entsetzen. Das Blut war jetzt über zwei Tage alt. Der Reinigungstrupp war schon da gewesen, aber selbst mit ihren chemischen Reinigern würden sie das, was hier geschehen war, niemals völlig auslöschen können, und auch die Luft würde für immer vom Grauen durchtränkt sein.
Die Vorhänge waren dünn wie Seidenschals. Das Licht der Straßenlaternen drang durch den Stoff und fiel auf das Bett. Warum hatte niemand etwas gehört oder gesehen?
Im Schlafzimmer musste der Mörder ihr schnell und präzise mit einem einzigen Schnitt die rechte Hand abgetrennt haben. Vorher hatte er sie in eine Mülltüte gesteckt und Arme und Beine herausbaumeln lassen. Aber nicht in diesem Schlafzimmer. Wo dann? Und warum? Und wo war die Hand? Lag sie als Trophäe in einem Gefrierschrank?
„Warum in diesem Zimmer?“, sagte er laut.
War das irgendeine perverse respektlose Geste gegenüber der Frau, die er abgeschlachtet hatte? Oder war es seine Art, sie zu verhöhnen?
Van Cleef öffnete den Kleiderschrank. Rebeccas Kleidung war von schlichter Eleganz. Das Mädchen hatte einen guten Geschmack und ein besonderes Faible für Schuhe. Sie besaß mindestens zwanzig Paar. Ungewöhnlich für eine Studentin, dachte er.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf einen Sessel sinken. Obwohl es heiß und stickig in der Wohnung war, zitterte er. Er wusste nicht, ob der kalte Schauder physische oder psychische Gründe hatte, und dachte sehnsüchtig an all die Orte, an denen er in diesem Moment lieber wäre. Er hätte zum Beispiel bei Mathilda sein können. Oder in seiner Wohnung. Egal wo, nur nicht hier.
Er wollte weg von diesem Ort des Grauens. Leise verließ er die Wohnung, atmete draußen erleichtert die Nachtluft ein und bedauerte, dass Mathilda nicht auf ihn wartete.
In seiner Wohnung setzte er sich an den Computer und schrieb den Bericht. Dann schenkte er sich einen Cognac ein und lehnte sich im Fernsehsessel zurück.
Was konnte er bislang an Fakten aufweisen? Rebecca war eine bildhübsche junge Studentin. Makellose Figur, blonde Haarpracht, hellblau lackierte Fingernägel.
Sie hatte eine Beziehung mit dem jungen Mann, der ihre Leiche entdeckt hatte und der nach seinen Angaben auch der Vater des Kindes war, das sie erwartete.
Er blätterte den Ordner durch, den er aus ihrer Regalwand genommen hatte, und fand das Empfehlungsschreiben eines ehemaligen Arbeitgebers, bei dem sie während der Semesterferien als Bürokraft gearbeitet hatte. Er beschrieb sie als eine ruhige, stets hilfsbereite und freundliche Frau.
Warum brachte jemand eine solche Frau um? Wie viele Opfer würde es noch geben? Er schwenkte seinen Cognac und betrachtete nachdenklich die goldene Flüssigkeit.
Die Uhr zeigte 5:57. Er legte sich für einen kurzen Augenblick auf die Couch.
Um acht Uhr war er wieder im Büro. Helena, seine Sekretärin,
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