Eiskalte Verfuehrung
durchgemacht hatte, war »unangenehm« noch das kleinste Übel. Außerdem würden die Jeans rasch trocknen, sobald sie unten den Kamin in Gang gebracht hatten. Sein Mantel hatte bewirkt, dass sein Hemd noch trocken war, und seine Stiefel hatten seine Füße geschützt. Wenn das Kaminfeuer das Wohnzimmer erwärmt hatte, würde er die Jeans ausziehen und sie über einen Stuhl oder sonst etwas hängen und ihn ans Feuer heranrücken, damit sie schneller trockneten.
Lolly hatte noch einige Kleidungsstücke in ihrem Schlafzimmer, was ihn überraschte, denn sie hatte sich solche Unmengen übergezogen, dass er geschworen hätte, dass nichts mehr übrig war. Ihre Schlafzimmertür war allerdings von innen abgesperrt. Er konnte das Schloss mühelos knacken, mit einer Nadel oder etwas Ähnlichem.
»Unten müssten wir etwas Brauchbares finden«, erwiderte Lolly auf seine Frage hin. Sie hätte – wie er – ihre nassen Sachen wieder anziehen können, fand den Gedanken jedoch unerträglich und holte stattdessen eine dünne Decke aus dem Wäscheschrank, um sich darin einzuwickeln. »Ich warte mit dem Anziehen, bis du die Tür zu meinem Schlafzimmer aufgekriegt hast.«
Das kommt mir gelegen, dachte er. Ja, es war ein angenehmer Gedanke, die Nacht mit einer Frau zu verbringen, die nur in eine Decke gehüllt war, denn er erinnerte sich in allen Einzelheiten, wie sie darunter aussah und sich anfühlte.
Er hatte nicht vorgehabt, mit Lolly unter der Dusche Sex zu haben, aber dass es ihm leidtat, konnte er nun wahrhaftig auch nicht behaupten. Es wäre gelogen, wenn er sagte, er hätte es nicht gewollt, er bedauerte es. Ob es nun noch einmal passierte oder nicht … Mist, wenn sie ihn anfasste und anlächelte, wenn sie ihn mit ihrem Mund noch einmal berührte, dann würde ihm höchstwahrscheinlich wieder die Sicherung durchbrennen wie beim ersten Mal auch.
Plötzlich dämmerte ihm, dass er ja gar nicht wusste, ob sie verheiratet war oder geschieden, ob sie zu Hause einen Ehemann hatte oder einen Freund. Sie war nicht der Typ Frau, der einen Mann hinterging, aber konnte er behaupten, dass er sie wirklich kannte? Menschen veränderten sich in fünfzehn Jahren. Manchmal sogar sehr. Und doch hatte er das Gefühl, sie zu kennen, das Gefühl, dass es nicht fünfzehn Jahre, sondern fünfzehn Monate waren, dass diese Pause ihm Zeit gegeben hatte, sie in einem anderen Licht zu sehen und die Unterschiede im Vergleich zu früher zu würdigen. Reife war etwas Wunderbares.
»Weißt du«, sagte er möglichst beiläufig, »wir müssen uns vielleicht zu Fuß von hier davonmachen.«
Lolly zog die Decke fester um sich und schnitt eine Grimasse. »Das soll wohl ein Witz sein, oder?«
»Wie viele Lebensmittel und Propangas hast du vorrätig?«
Sie seufzte. »Genug für ein paar Tage – bestenfalls.«
»Das dachte ich mir. Wir wärmen uns auf, essen, schlafen uns aus, warten, bis die Sonne aufgeht, und hören, ob weniger Bäume umstürzen. Spätestens morgen Nachmittag müsste die Straßenwacht ihren Dienst aufnehmen. Die Straße den Berg herauf hat keine Priorität, steht auf der Liste vermutlich ganz unten, aber wenn wir es den Berg hinunterschaffen, werden wir sicher auf jemanden treffen, lange bevor wir noch die Stadt erreichen.«
»Und wenn nicht?«
Er lächelte sie an. »Dann müssen wir den restlichen Weg in die Stadt auch noch zu Fuß zurücklegen.« Nach dem heutigen Abend erschien ihm ein langer, schwieriger Fußmarsch in der Kälte das reinste Kinderspiel.
» Ich muss was Warmes essen, bevor ich auch nur daran denke, das Haus zu verlassen.« In ihre Decke gewickelt trat Lolly in den Gang und ging in Richtung Treppe.
Lolly hasste es, wieder in die Küche zu müssen. Und gerade weil es ihr so verhasst war, zwang sie sich, weiterzugehen, nicht zu zaudern. Ihre Erinnerung an die Geschehnisse dort unten war noch zu stark, obwohl sie an diesem Abend viele andere Erfahrungen – gute wie schlechte – gemacht hatte. Aber sie wollte und brauchte etwas Warmes zu essen im Bauch, und sie weigerte sich, einem Toten zu gestatten, es ihr zu versagen. Er war tot; sie nicht. Die Siegerin war sie.
Da ohne Strom die elektronische Zündung des Herdes nicht funktionierte, suchte sie nach Streichhölzern, um ihn damit in Gang zu bringen. Sie fand ein Teelicht und zündete es an. Die Flamme gab Wärme und etwas Licht ab, ausreichend, um nach Kerzen und den Öllampen zu suchen, die sich noch irgendwo im Haus befanden, wie sie wusste. Sie hielt
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