Eiskalte Versuche
die Decke als Dankgeschenk erhalten; von einem Paar, dem er geholfen hatte, nach vielen vergeblichen Versuchen endlich ein Kind zu bekommen. Isabella hatte die Geschichte unzählige Male in ihrem Leben gehört. Nun war er nicht mehr da, um sie zu erzählen. Nur die Decke auf seinem Bett erinnerte daran. Sie holte zittrig Luft und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die alltäglichen Dinge, die zu erledigen waren. Zuerst musste sie sich um die Unterlagen aus dem Tresor kümmern.
Sie steuerte auf den Tresen zu, wo Delia sich mit einem recht ungepflegt wirkenden Fremden unterhielt. Sobald die Empfangsdame Isabella sah, winkte sie sie herbei.
„Brauchen Sie mich?“ fragte Isabella.
„Miss Abbott, dieser Herr fragt, ob er hier Arbeit bekommen kann.“
Isabella wandte sich höflich lächelnd dem Fremden zu. Sie schätzte ihn auf Mitte sechzig. Nach den Bartstoppeln zu urteilen, hatte er sich seit mindestens einer Woche nicht mehr rasiert, und seine Schuhe waren staubig. Die Kleidung, die er trug, war gediegen, aber nicht sehr sauber, und der Ausdruck in seinen Augen zeigte, dass er nicht immer so heruntergekommen ausgesehen hatte. Als sie seinem Blick begegnete, straffte der Fremde sofort die Schultern; verteidigungsbereit, als erwartete er, abgewiesen zu werden, bevor er sein Anliegen vortragen konnte. Isabella streckte ihm ihre Rechte entgegen. Die Geste schien ihn so zu überraschen, dass er die Hand nicht nahm. Aber sie hatte gelernt, einen Menschen niemals vorschnell zu beurteilen.
„Ich bin Isabella Abbott.“
Der Mann zögerte, dann wischte er sich die Hand am Hosenbein ab und reichte sie Isabella.
„Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen, Miss Abbott. Mein Name ist Victor Ross.“
„Was für eine Arbeit suchen Sie?“ fragte sie.
„Mir ist jede körperliche Arbeit recht. Ich suche einen Platz, wo ich schlafen kann, und Geld brauche ich auch. Ich mache alles, was Sie mir auftragen.“
Eigentlich benötigten sie keine zusätzliche Arbeitskraft, aber Isabella hätte es nicht über sich gebracht, einen Menschen abzuweisen, der womöglich Hunger litt.
„Schön, Mr. Ross. Einen festen Angestellten brauche ich für die Gartenpflege nicht, aber Sie können eine Woche bleiben und aushelfen, wenn Sie wollen. Ich nehme an, mit einer Heckenschere und mit dem Rasenmäher können Sie umgehen?“
„Ich erledige alles, was Sie mir auftragen“, wiederholte er.
Etwas an seiner Redeweise war ungewöhnlich. Die harte Aussprache und die übergenaue Betonung ließen den Eindruck entstehen, dass Englisch ihm fremd war. Aber um den Rasenmäher zu bedienen, musste er nicht akzentfrei sprechen.
„Also gut. Sind Sie mit acht Dollar die Stunde, zuzüglich Unterkunft und Verpflegung, einverstanden?“
Die Augen des Mannes weiteten sich. Er schien im Geist einige Berechnungen anzustellen, dann nickte er.
„Schön. Das wäre abgemacht“, sagte Isabella. „Haben Sie persönliche Gegenstände bei sich?“
Er zog den Kopf ein und sah zu Boden. „Draußen vor der Tür steht eine kleine Tasche.“
„Gut. Hinten auf dem Grundstück befindet sich ein Schuppen, in dem die Gartengeräte aufbewahrt werden. Dort gibt es auch ein kleines Zimmer und eine Dusche. Ihre Mahlzeiten nehmen Sie mit den anderen Angestellten in der Küche ein.“
Victor Ross hob den Blick wieder und sah Isabella an. Die Freundlichkeit in ihren Augen zeigte, dass diese Frau ein mitfühlendes Herz hatte.
„Danke, Miss Abbott. Ich werde Sie ganz sicher nicht enttäuschen.“
Sie lächelte. „Holen Sie Ihre Tasche und gehen Sie durch den Hintereingang in die Küche. Wenn Sie etwas gegessen haben, können Sie mit der Arbeit anfangen. Ich sage der Köchin Bescheid, dass Sie kommen.“
„Ja, Miss. Vielen Dank.“ Er verließ die Halle, bevor sie ihre Meinung ändern konnte.
Delia runzelte die Stirn und zog verblüfft eine Braue hoch. Sie sah ihre Chefin an.
„Miss Abbott, und was sagen Sie Harve Mosely, wenn er nächste Woche zum Rasenmähen kommt?“
„Warum rufen Sie ihn nicht an und teilen ihm mit, dass er erst übernächste Woche kommen soll?“
Delia seufzte. „In Ordnung, Ma’am. Aber Sie haben ein zu weiches Herz, wenn Sie mich fragen.“
Isabella hob die Schultern. „Mag sein. Wenigstens kann ich heute Abend mit der ruhigen Gewissheit einschlafen, einem hungrigen Menschen nicht die Tür gewiesen zu haben. Ach, noch etwas. Rufen Sie in der Küche an und teilen Sie Sarah mit, dass Mr. Ross bis zum Ende der Woche bei uns verpflegt
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