EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
gespürt, wie sie an seinem Hals saugten, die herumrührende Zunge in seinem Mund, eine streichelnde Hand an seinen Genitalien, die andere hielt ihn fest, unerbittlich. Irgendwann drang der alte Mann in ihn ein. Dabei entging ihm natürlich die Veränderung in seinem Enkelkind, die Schauer einer mörderischen Wut, ein Schrei, ein Junge, der von den Fängen eines Falken durchbohrt und durch die Luft davongetragen wurde.
Oft erwachte er heute aus seinem Schlaf; immer waren es die Schreie und das Stöhnen des Spätsommers, jener hitzigen Nächte nach dem verlorenen Kartenspiel, und er, in den Fängen seines Großvaters. Damals war er fünf Jahre alt gewesen.
Unzählige Male hatte der Richter sich in den darauffolgenden Jahren, während er schlief, aus dem Staub seines Grabes erhoben, um ihn auf dem Dachboden zu missbrauchen, immer und immer wieder. Die Gewalt des Richters, der sein Großvater war, hatte ihm seine Kindheit geraubt und ihn besudelt. Sie schlug tiefe Wurzeln in seinem Herzen, sie kannte weder Blüte noch Erntezeit, weder Frühling noch Winter, sie war immer reif, immer frisch.
Er seufzte. Die Prozessakte war vom vielen Durchblättern ziemlich zerfleddert, die Seiten waren zerknittert und an den Rändern ausgefranst, an der rechten unteren Ecke befand sich ein bräunlicher Kaffeefleck. Aber das war gleichgültig. Seine Zeit war gekommen.
Die Hirnoperation eines zwielichtigen Privatpatienten hatte ihm die Lösung gebracht: die Kontaktadresse eines Auftragskillers. Für diesen Hinweis hatte er sogar auf sein Honorar verzichtet.
Der Mann, der sich der Pole nannte, hatte erste Anweisungen erhalten und war bereits auf dem Weg nach Essen.
Kapitel 5
Salzburg
Jörg Kreiler wachte auf der Wohnzimmercouch in seinem Ferienhaus auf, ihr Lächeln vor Augen. Irgendwo draußen am Stadtrand von Salzburg stromerte die Nacht herum. Noch immer hielt er die Aufnahmen in der Hand, die heute mit der Post gekommen waren.
Seit Wochen hatte er auf diesen Moment gewartet. Die Aufnahmen von ihr und dem Kind, einem sechsjährigen Mädchen, lächelnd, schwarze Locken, dunkle Augen. Diese Augen, dachte er, haben etwas Unergründliches . Plötzlich kam ihm Annas Peiniger und Katharinas Mörder in den Sinn: der Arzt Nicolas Giacomo Corelli, der sich Jakob nannte, wenn er seinen Perversionen nachging. Er war nur ein armseliges krankes Müttersöhnchen gewesen, das reihenweise junge Frauen umbrachte, die seiner Mutter glichen. Corelli hatte Katharina schon als Kind im Visier gehabt. Niemand hatte Verdacht geschöpft, weil Katharina mit Corellis Adoptivsohn Severin befreundet war. Sie war das unbeschriebene Blatt, das Corelli mit seinen Wünschen und Vorstellungen füllte, bis Katharina sich in ihn, Jörg Kreiler, verliebte. Corelli hatte sie dafür mit dem Tod bestraft. Aber warum musste sich dieses Schwein später auch noch auf die heranwachsende Anna stürzen? Ganz klar, weil sie ihrer Schwester glich.
Er ertappte sich neuerdings dabei, dass tief in seinem Inneren Verständnis für dieses Motiv aufflackerte. Jakob hatte Katharina begehrt, und in Anna hatte der Bastard nur Katharina gesehen. Diese verdammte Ähnlichkeit machte auch ihm zu schaffen.
Er starrte auf die Fotografie. Das waren nicht Max’ Augen im Gesicht des Mädchens!
Schon der bloße Gedanke an Annas Ehemann ließ ihn wütend werden. Max, der ihr nur das unangenehme Gefühl des Nicht-ausgefüllt-Seins brachte. Er war der Inbegriff der Eintönigkeit, der Ödnis, ein entsetzlicher Langweiler, der diese Frau nicht verdient hatte.
Nie würde er sie verstehen, denn Anna war keine turbulente Aktienkurve. Sie verkörperte die Leichtigkeit des Tanzes und drückte das Gefühl der Sehnsucht nach Liebe aus. Aber sie hatte Sicherheit gesucht, finanzielle Sicherheit. Ihre Eltern waren alles andere als vermögend gewesen. Das prägt einen Menschen. Nur kein Risiko eingehen.
Mein Gott, wie naiv! Emotionale Abenteuer, Leidenschaften, rauschende Sinnlichkeit, nichts wusste sie davon! Nichts! Könnte er ihr doch sagen, dass sein Haus in ihrer Abwesenheit in Schweigen verfiel, obwohl er dennoch die Nähe von etwas spürte, einen Geist, den Gedanken an Feuer, das drohte, ihn zu verzehren. Die Erinnerung an Katharinas festen Körper, ihre Bewegung, wenn sie das Licht löschte, bevor sie sich liebten …
Er kratzte sich den Oberarm auf und starrte auf die blutige Spur.
Warum blieb Anna bloß bei diesem gestylten Nadelstreifenhänfling? Er wusste sie doch nicht zu lieben. Nicht
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