EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
mit versteinerter Miene zwischen der trauernden Gemeinde stand und sie beobachtete, ein Schatten, der sich verschob und sich auf die Trauergemeinde senkte, die wie hinter dunklem Milchglas verschwand. Ein Mann hob sich in überirdischer Deutlichkeit aus dem Schatten heraus, dass sie selbst seine Gedanken lesen konnte. Sie hörte sein Flüstern.
„Warum verzweifelst du, Anna, wenn der Tod das Tor zu Freude und Herrlichkeit ist?“
„… ist es Katharina, die in dem Grab liegt?“, fragte Kreiler vorsichtig.
Sie bewegte sich unbehaglich auf der Couch und nickte. „Ich glaube, ja. Ich bin mir aber nicht sicher.“
Er sah jetzt, dass sich ihre Abwehr in einer Mischung aus Furcht und Elend verlor.
„Was siehst du, Anna?“
Sie schilderte unter seiner Anleitung ihre Empfindungen. „Ich schaue mich noch einmal zu Katharinas Grab um, an dem Severin steht. Aber …“
„Anna, sieh genau hin. Wer liegt in dem Sarg?“ Kreiler saß vorgebeugt in einem Ohrensessel, etwa anderthalb Meter entfernt, und staunte über die Veränderung in ihrem Gesicht, wie Trauer einem Ausdruck argwöhnischer Furcht und Entsetzen wich.
Anna wollte nicht hinschauen, sie wollte nicht hinuntersehen, dort, wo ihre Schwester lag, die sie immer beschützt hatte. Was sollte aus ihr werden? Wer beschützte sie jetzt außer ihre Großeltern? Katharina war so stark, sie war unersetzlich für sie.
Anna hielt die Hand ihrer Großmutter fest umklammert. Sie wollte nicht neben ihrer Mutter stehen. Sie verabscheute diese zur Schau gestellte Beherrschung, wie auch Katharina sie verabscheut hatte.
Ein merkwürdiger Impuls erfasste sie, ein Sog, der von Katharinas Grab auszugehen schien und sie zwang, ihre Starre zu lösen. Gleichzeitig überfiel sie die Angst, dass sie sich zu ihrer Schwester ins Grab stürzen könnte. Sie wollte nicht ohne sie leben.
Ein flüchtiger Blick auf das Grab, und plötzlich war es nicht Katharina, die in dem Sarg lag, sondern sie selbst – auf roten Samt gebettet.
„Wer steht am Grab? Was siehst du?“
„Meine Mutter … Sie steht vor einem Grabstein.“
„Und weiter?“
„Auf dem Grab liegt ein Blumengebinde aus Schleierkraut und Lilien.“
Katharina konnte Lilien nicht ausstehen.
Bobby! Bitte!, ermahnte Kreiler seine innere Stimme
Annas Miene verfinsterte sich. Sie rollte sich auf die Seite.
„Anna?“, flüsterte er.
„Nein! Ich kann nicht!“
Das ist … das ist Katharinas Stimme!
Verdammt! Halt endlich deine Klappe und verschwinde.
„Was steht auf dem Grabstein?“
„Ich kann es nicht sehen. Meine Mutter steht davor, mit meiner Schwester.“
Schwester?
„Deine Mutter verlässt jetzt den Friedhof. Kannst du sehen, was auf dem Grabstein steht?“
Anna gab einen klagenden Ton von sich und drehte das Gesicht in die Kissen.
„Sieh nicht weg, Anna.“
Sie blickte hoch, ihre Augen wurden groß. „Anna Wendel. Mein Name steht auf dem Grabstein ...“ Dann versagte ihre Stimme. Ihr Unbehagen war jetzt greifbar, und er befürchtete, dass es in Hysterie übergehen könnte. Außerdem durfte er am Anfang nicht zu weit gehen.
Mit leiser Stimme führte er sie langsam aus der Trance heraus und ging den Weg zurück, den sie durch die imaginäre Landschaft gekommen war. Die Wiese. Der Wald. Der Bach.
„Atme tief durch“, wies er sie an. „Die Luft ist köstlich. So süß und frisch und kühl.“
Ihre Brust hob und senkte sich langsam und gleichmäßig.
„Wenn ich bis fünf zähle, wirst du aufwachen und dich entspannt und erfrischt fühlen, okay?“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, begann er zu zählen. „Eins … zwei … drei …“
Annas Lider zuckten, dann öffneten sie sich langsam und zeigten ihm zwei dunkle, geweitete Pupillen, die sich im Licht zusammenzogen.
Kreiler reichte ihr ein Kleenex.
Anna blinzelte hektisch ins Licht, dann hob sie schwungvoll die Füße von der Couch und kam hoch. Ihr Gesicht war gerötet, doch ihre Augen waren glänzend und hell.
„Du hast sehr gut mitgemacht. Ich bin stolz auf dich!“
Sie räusperte sich. „Ich verstehe das alles nicht, Jörg. Das war nicht so!“
„Sag mir, was du denkst.“
„Ich denke, dass das alles verrückt ist.“
Sie hat recht, Jörg.
Sie seufzte. „Warum soll ich mich an Sachen erinnern, die niemals passiert sind?“
„Siehst du, es ist unmöglich, eine Erinnerung zu wecken, ohne gewissermaßen auch die Emotion zu wecken, die mit dieser Erinnerung verbunden ist. Das emotionale Beiwerk kann manchmal so schmerzlich sein,
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